Kippfigur. Marcus Brauns Roman “Delhi” (Hessischer Rundfunk, 14.04.99)
Der angehende Architekt Goester bekommt von seiner Mutter zum Abschluß seines Studiums eine Reise nach Indien geschenkt. Schon während des Fluges nach Delhi bemerkt er eine hübsche Frau, Sophie, die eben noch in einer europäischen Hauptstadt einen indischen Baulöwen erschossen hat. Oder auch nicht. Denn Goester ist ein Freund des Gedankenspiels, besonders angesichts hübscher Frauen: „Als Kind hatte er lange Abende damit verbracht, Filme im Kopf nachzuspielen, mit sich in der Haupt- oder, wenn die Helden zu alt waren, in einer glänzend ausgebauten Nebenrolle. Erst wenn er Herz und Busen der Dame erobert hatte, gelang es ihm, einzuschlafen.“
Vielleicht ist der Eröffnungsmord des Romans also schon ein Film aus Goesters intimem Bordkino, der allerdings auch nach der Landung noch weiterläuft. Kaum in Delhi angelangt, deckt Goester in der amerikanischen Botschaft auch schon ein Mordkomplott auf. Von nun an setzt er alles dran, diesen Mord zu verhindern und die schöne Sophie rumzukriegen. Aber Indien ist heiß, der Whisky der ehemaligen Kolonialmacht ist so bernsteinfarben wie der Buchumschlag, und so stellt sich die Frage: ist alles nur eine „Halluzination, gewebt aus Klima und Alkohol“?
Der Text steht unter dem Zeichen des Labyrinths. „Ein Labyrinth, aus dem man herausfindet, ist kein Labyrinth. Ein Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gibt, ist kein Labyrinth.“ Was ist Goesters Phantasiewelt, was seine Wirklichkeit? Der Plot beißt sich in den Schwanz, die Realität zieht sich selbst an den Haaren aus dem Hochmoor des Wahns, die Textrolle kringelt sich zur Möbiusschleife: Gödel, Escher, Bach, Borges, Nabokov.
Braun hat seinen Roman wie eine Schachpartie komponiert. Der Text ist gegliedert in 8 Teile und 32 kurze Kapitel. Man erfährt, daß Kasparow seinen Gegner Hjartson 1994 in Paris in 32 Zügen Matt setzte. 2 mal 32 ist 64, geteilt durch 8 ist 8: Diese Schachkabbalistik durchzieht motivisch das ganze Abenteuer. Seit Lewis Carrols „Through the Looking-Glass“ ist das Schachspiel eine Quelle formalistischer Knobelprosa, deren Figuren aus dem Blattzinn hinter´m Spiegelglas gegossen sind; und seit Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist das Spiel mit langsam, aber sicher fortschreitendem Wahnsinn konnotiert. Auch in Vladimir Nabokovs „Lushins Verteidigung“ zwängt das Schachspiel die hochbegabte Hauptfigur in eine paranoide Weltsicht mit tödlichem Ausgang.
Und da mittlerweile der leidenschaftliche Schachspieler Nabokov dieses Frühjahr sogar schon auf Rowohlt-T-Shirts als kauziger Schmetterlingsjäger zu haben ist, läßt ihn Marcus Braun in seinem Buch zur Abwechslung mal als brummeligen Fluginsektenforscher verkleidet auftreten, der gerne Schachaufgaben erstellt. Unter dem Blick des Forschers verwandelt sich Goester in ein kafkaeskes Insekt: „Goester war wie auf den Rücken geworfen und gestikulierte umständlich.“ Nabokovs Body-Double liefert die brauchbarste Metapher für das ästhetische Programm des Romans. Ton ab: „Seine Methode bestehe darin, nur die Züge des einen Spielers mitzuteilen, und das bis zum Ende einer Partie; die mutmaßlichen Züge des anderen seien sinnvoll zu ergänzen. Eine noch schwierigere, von vielen aber auch für einfacher gehaltene Aufgabe wäre so formuliert: Von einem Schachbrett denke man sich die Hälfte weg; zum Beispiel die schwarzen oder die weißen Felder oder die Reihen 1-4 oder a-d, egal; die unsichtbaren Stellungen und Bewegungen seien zu ergänzen.“
In ebensolche Spielereien verwickelt Braun seine Leser, die ausschließlich die Züge, Gedanken, Bewegungen und Visionen Goesters erfahren. Das sind die Freuden einer Erzählperspektive mit Scheuklappen. So entsteht eine Kippfigur aus Traum und Wirklichkeit: „Sophie sah ihn mit gesenktem Kopf wie entrückt auf das Schachbrett starren. Goester konnte so wahlweise die zweiundreißig schwarzen oder die grauen Felder in den Vordergrund treten lassen; er zog die schwarzen mit seinem Blick zu sich, sie schwebten ihre Ordnung beibehaltend frei in der Luft, während die blasseren ins Bodenlose verschwanden.“ Der Architekt Goester stolpert durch einen Escherschen Komplex, in dem er nie sicher sein kann, ob er nun treppauf oder treppab läuft, Vorder- oder Hintergrund ist, noch zum Wandteppich gehört oder schon Figur sein darf.
Delhi ist hier halb realistisch stinkende Metropole, halb Traumland, in dem selbst die Zeit zum Vexierbild wird: „´Kal` heißt in Hindi sowohl gestern als auch morgen.“ Auch in die Eigennamen kommt man sowohl durch den Vorder- als auch durch den Hintereingang: „Roopakkapoor“, „Kutuk“. Land der Spiegel und der Symmetrien. Das Leben ist ein Palindrom und die Welt nur Spiegelfechterei: „Ein Käuzchen ahmte ein Kind nach, das ein Käuzchen nachahmte.“ Luftspiegelungen und Solipsismus drohen allüberall: „Goester sinnierte und betrachtete die haarfeine Sichel des Mondes, die an der Zeltdecke befestigt war; so dünn, daß man kaum den Blick von ihr wenden mochte, aus Angst, sie würde ohne Betrachter ihre Existenz aufgeben.“ Alles zusammen ist eine Mischung aus mittagsheißer Halluzination und steinkühlem Kalkül: „Der Tempel schien Goester nichts zu bedeuten. Er war in Gedanken bereits am Observatorium, berührte die steinernen Apparate; die unbestechlichen Skalen fühlten sich kalt an, obwohl sie der Sonne ausgesetzt waren.“
Der Roman ist trickreich komponiert und ähnlich verwirrend eingerichtet wie das Spiegelkabinett des Show-Downs von Orson Wells´ „Dame aus Shanghai“. Gerne setzt der Autor den Leser auf eine falsche Piste, täuscht eine Angriff vor und zieht in der Pinkelpause noch einen zusätzlichen Läufer aus dem Ärmel. Geschickt spielt Braun mit Motiven, Bildern und Atmosphären der Vergnügungsliteratur für´s Multiplex-Publikum: Abenteuer, Thrill, Knarren, Sex, Mord & Totschlag, Exotismus, Tempelbauten; - Indiana Jones meets Lara Croft. Brauns Stil ist knapp und präzise, seine Erzählmechanik schnurrt mit sich schnell drehenden Rädchen ab: 1.e4 c6 2.d4 d5 3.e5 Lf5 … Matt in 32 Kapiteln.
In dem flott voranschreitenden indischen Abenteuer Goesters gibt es erfreulicherweise viele Zwischenstopps an poetischen Wasserlöchern, auf deren Oberfläche sich die Welt originell gebrochen spiegelt: „Der Jeep atmete unregelmäßig durch die Warnblinklichter.“ Oder etwas weniger versöhnlich: „Fliegen und wanzenartige Blutsauger saßen, den Sternenhimmel nachäffend, auf seiner nur noch spärlich behaarten gelben Haut.“ Diese Wasserlöcher sprudeln jedoch nicht aus dem Nichts hervor, sondern sind mit anderen Quellen verbunden und bilden ein unterirdisches System, in dem es sinnvoll zirkuliert. Ebenso wie bei Lara Croft sollte man nicht vergessen, das kleine Paket auf Seite 23 unten mitzunehmen; es könnte einem auf Seite 89 oben von großem Nutzen sein.
„Delhi“ ist ein elegantes Actionpoesiekniffelspiel. „Oktober 1994 - Dezember 1997“ steht am Schluß des Textes. Das ist lang, aber hat sich gelohnt.
Marcus Braun: Delhi. Roman, Berlin Verlag, Berlin 1999, 176 S., 32 DM