Das Freibad ist geschlossen. Tief gebückt und verlassen hockt die Riesenrutsche am Beckenrand wie ein Tier aus einer anderen Zeit. Ein mineralisierter Saurier an einer ausgetrockneten Wassertränke. An seiner Achillesferse ein Ahornblatt. Herbst. In den Kontaktanzeigen flattern die Schmetterlinge immer seltener. Aber öfter steigen wieder die Drachen. Außerdem mit von der Partie: Kaminfeuer, Kerzenschein, Rotwein, Nüsse, Nebelbänke, Pilze, Ofen, Tee. Chiffre: Rilke.
Der häufigste CD-Vorname in den nächsten Monaten lautet „Kuschel“. Marion hängt Gardinen in ihren Blick. Auf dem Ökomarkt baut eine Pilzberatung ihren Stand auf: Der Sommer war feucht. Zu feucht für Getreide. Zu feucht für Menschen. Aber gerade feucht genug für Pilze. Die kleinen knollenartigen Gewächse. Die nun sprichwörtlich aus der Erde schießen; bzw. wortwörtlich aus ihr sprießen. Die Nummer des Giftnotrufes jedenfalls lautet: 19240.
Ernsten Schrittes schreiten Männer im Park und reden über Raum, Zeit, Kategorie und ISDN-Anschluß, während der Strahl des Springbrunnens sich erst krümmt, dann abknickt und zuletzt - richtig: versickert und versiegt.
Vor dem Asia-Imbiss bilanziert eine Dame ihren Nachsommer: „Im September ist alles zusammengekommen: Erst hatte ich meinen Scheidungstermin, dann bin ich mit meiner Tochter umgezogen, dann war´n jetzt diese Wahlen, und am Ende des Monats soll ja auch der Supermarkt da drüben wieder aufmachen. - Renoviert und alles. Na, da bin ich ja mal gespannt.“
Letzte Glasfaserkabeln werden verlegt, bald gibt´s den ersten Bodenfrost. Die Blätter kriegen die Blattern, aus dem Laub schwindet das Chlorophyll, langsam steigt das Chloroform, um das lepröse Abfallen zu betäuben. Auf den Gehwegen gibt der Wind dem Laub Nachhilfe in Chaostheorie, weiter oben verschiebt der Herrgott den schnatternden Vektor der Zugvögel. Meistens nachts, denn Zugvögel sind sein Geheimnis. Das Pferd, das biegsame rote Schaukelpferd im Sandkasten senkt schon seine Körpertemperatur und fällt auch bald in Winterstarre. Der ganze bunte Patchwork-Teppich ist mit der Nadel der Melancholie zusammengenäht. Und wenn der Faden reißt, wird unser Poesiealbum zum Herbarium:
Kastanien
Desorientierte Weihnachtsbäume:
Im Frühjahr Kerzen,
Im Herbst Geschenke.
Der Biorhythmus schnallt sich an, zurrt sein Halstuch fester und drückt die letzte Zigarette vor der großen Talfahrt aus. Meine Nachbarin beißt in das vorletzte Viertel ihrer Pizza Quattro Staggioni und verzieht das Gesicht: Sardellen und Kapern. Nicht jedermanns Sache.
Laß dich gegen Grippe impfen! Im Hals kratzen die Mandeln, drum herum der Rollkragen. Die Abende werden wieder länger. Die Morgende auch. Der Rest wird kürzer und stinkt nach Heizungsluft. Morgen wirst du deine Doppelfenster schließen; und nächstes Frühjahr vier tote Wespen in ihrem Zwischenraum finden.
Ich aber gebe mich wie jeden Herbst zur Adoption frei. Ich hätte nun gerne wieder eine Großmutter. Ohne Großmutter macht Herbst nur halb soviel Spaß. Den ganzen Sommer Über hat man sich zerstreut, ist sorglos durch die Gegend gesprenkelt wie Sommersprossen über ein gutgelauntes Gesicht, durch´s Gebüsch gehuscht wie eine Gänsehaut über einen sonnengebräunten Rücken, hat organisierte Banden gebildet, unerlaubt auf Wiesen gegrillt, kleinere Rotlicht-Delikte begangen, ist von einem Arm in den andern gesunken, hat Fußkettchen am linken Ohr klicken und Armreifen am rechten Ohr klacken hören und an abgelegenen Körperstellen Tattoos gefunden, die nicht wasserfest waren, wie sich herausstellte. Wie sich überhaupt so vieles herausstellte… Schnaufend und stöhnend wurde die Ernte eingefahren, barfuß jagten wir über´s abgemähte Stoppelfeld, meine Lieben, war das eine Zeit… Die Beine sind zerkratzt. Ein entzündeter Wespenstich juckt hinten links auf der Seele - oder wie heißt das? Der Sommer ist zuende.
Vernichtend ist der Bericht des Sonderermittlers ausgefallen. Peinlich. Es wird Zeit, sich zu sammeln und Abbitte zu leisten. In tiefen Plüschsesseln versinken, endlich wieder Zuckerkneifer benutzen; wieder nicht mit den dicken Wurstfingern durch die zierlichen Henkel der Kaffeetasse mit Sammlernummer kommen, wieder nicht mit dem bleiernen Blick durch die engmaschig gehäkelten Gardinen kommen. Es klingelt, drei Damen treten ein, noch zwei, drei welke Blätter wehen in den Hausflur, aber schnell geht die Tür zu. Bald erklären Omas Freundinnen mit beispielhafter Geduld die Bridge-Regeln. Behaglich schnurrt das Telefon auf seinem Stickdeckchen, im Toaster pfeift der Wind und in der Ferne ein Zug, das Radio hört Radio und sagt keinen Mucks, haben Sie eigentlich schon Ihre GEZ-Gebühren bezahlt? Zivilisation…
Herbst. In seinem nächtlichen Dunst hängt ein internationaler Mond mit deutschen Untertiteln:
„Liebe Michaela, 1000 Küsse, Dein Herbert.“
Merkwürdig? Nein, überhaupt nicht merkwürdig: Ein Werbezeppelin mit Leuchtdiodenlaufschrift auf Nachtflug. Über eine Hot-Line kann man seinen Wunschtext einspeisen. Wenn man durchkommt. Gut, dann will ich´s mal versuchen.
19240: “Oma, bitte melde Dich!“
(erschienen in “Die Außenseite des Elementes”)