Stephan Maus

Markus R. Weber: ‘Extremisten’ (FAZ)

Solitude Talk. “Extremisten. 39 Augenzeugenberichte” von Markus R. Weber (FAZ, 13.04.1999)

Extrem ist in. Der Freeclimber, der seine Ösen ausschließlich in die gepiercte Augenbraue, niemals aber in die zu bezwingende Felswand friemelt, der kunstvoll modevernarbte Freestyle-Skater mit trendbewußt zwiefacher Oberschenkelhalsfraktur oder der Anhänger des gegenläufigen Rolltreppings: alle leben sie „nur für den Kick, für den Augenblick“ (TicTacToe).

1997 erhielt der Autor Markus R. Weber ein Stipendium der Akademie Schloß Solitude in Stuttgart. 1998 erscheint Webers Prosaband „Extremisten. 39 Augenzeugenberichte“. Das Château muß verkabelt sein, es sei denn, an einer Schloßzinne hängt eine Parabolantenne, denn Weber hat augenzeugenscheinlich einige Zeit im großherzoglichen Fernsehzimmer verbracht und sich Talk-Runden angeguckt. Ganz nach dem Rilkeschen Motto „Und wir: Zuschauer, immer, überall, dem allen zugewandt und nie hinaus“, das dem Buch vorangestellt ist und bald dann wohl auch über dem Impressum von TV-Today steht. „Nie hinaus“, nie mal in den Schloßgarten, nie mal mit dem Koch über den Markt geschlendert.

In 39 Prosaminiaturen läßt Weber nun Personen zu Wort kommen, die bis an die äußerste, bröckelige Kante einer Leidenschaft, eines Ticks oder einer Schrulle gerobbt sind und sich nun gerne bereit zeigen, das Zeugnis ihrer mal spektakulären, mal banalen Abenteuer in den Abgrund zu rufen. Denn unsere Extremisten sind auch Exhibitionisten. Interessant: Eine Extremperson schreibt in einem Glaskasten in einer Fußgängerzone die Bibel ab. Ähnlich wie Sibylle Lewitscharoffs Held Pong, der in einem Glaskasten auf einem Berliner U-Bahnsteig das Alte mit dem Neuen Testament kurzschließt. Mithilfe eines Stöpseltheostats. Exegese und Exhibition in der neuen deutschen Literatur.

Webers Texte geben sich als lakonische Chroniken, schnörkellos und ohne Arabesken, die Geburt der Kurzprosa aus dem Geiste der Presseagentur, Rubrik „Vermischtes“. Diese stilistische Ungerührtheit ist natürlich nur ein rhetorischer Kniff, um die vermeintlichen Absurditäten in der Aura eines sehr angelsächsischen Understatements doppelt stark wirken zu lassen. Und hier nun liegt der Haken, der Hering in der Lake und der Hase im Pfeffer. Es treten nämlich Typen auf, die man sich allesamt sehr gut selbst vorstellen kann. Oder noch nicht einmal vorzustellen braucht, denn es sind die mittlerweile auf jedem Kanal gegenwärtigen Erika und Ernst Mustermanns.

So lassen sich z.B. Mitglieder einer Sekte kollektiv in der Wüste blenden, ein Installateur bricht in Wohnungen ein, um Wasserhähne zu reparieren, irgend jemand ist sehr interessiert daran, seine Geschlechtsumwandlung im Fernsehen live übertragen zu lassen, und einer baut Piranesis Carceri aus Streichhölzern und Zuckerwürfeln nach: was nichts, aber auch gar nichts ist im Vergleich zu der Wirklichkeit, die sich neulich einen polnischen Künstler ausdachte, der ein KZ aus Lego nachbaute. Einfälle, die Sie immer schon gehabt haben, aber nie niederzuschreiben wagten. Weber liefert sogar einfach mal drei Seiten Talk-Show-Mitschrift und schreibt „Zuneigung“ drüber. So geht´s natürlich auch. Sicher leben wir auf einem tollen Jahrmarkt der Eitelkeiten; aber warum dann einfach noch eine Schaubude zusammenzimmern und die gleichen Freaks ausstellen wie der Verhau nebenan? Es wird vielleicht Leser geben, die das als pfiffig beobachtete, geistreich entlarvende, stilsicher mitstenographierte oder phantasievoll weitergeführte Grotesken lesen werden; - es wird aber auch sicher Leser geben, die 39 Mal aufschauen und ein desinteressiertes „So what?“ in den Raum entlassen werden.

Es gibt hier Sätze, die scheint eine Grabesstimme aus dem allgemeingültigen Jenseits zu verkünden, Gänsehautsätze, Sätze, da hört man ein ganzes Streichorchester: „Es gibt Augen, die lügen, während sie schauen. Das Kameraauge gehört meistens dazu - weil es nicht blinzeln kann.“ Wen interessiert´s, ob Kameraaugen lügen, solange sie nur Fenster zur Seele eines Sony sind. Hauptsache, der Autofocus funktioniert. Man sollte seine blinzelnde Nachdenklichkeit nicht an jeden Artikel des Aldi-Mittwochsangebots verschwenden, um daraus anschließend eine Archäologie des Alltags zu improvisieren. Die Stücke wirken oft wie erzählerisch aufbereitete Aphorismen. Die Fünf-Minuten-Besinnlichkeit, die 30-Zeilen-Schrulle, Slim-Line-Literatur. Weber hat den bei jungen Autoren gehobener Prosa recht verbreiteten Metzger-Komplex: Rohes Fleisch, innere Organe und Pökelmodalitäten faszinieren ihn sonder Maßen. Und mehrmals kommt das Wort Verlagsvertrag vor. Was das wohl zu bedeuten hat?

Manche Miniaturen spinnen einen etwas originelleren Einfall fort, der aber sofort nach betont hintersinnigem Gedankenspiel aussieht und ziemlich hilflos allegorisch-parabelnd über den Laufsteg stolpert. So spezialisiert sich ein literaturstudierter Tätowierer auf endoskopisches Freihandtätowieren innerer Organe: „Eine Referendarin hat bereits ein Zitat von Sylvia Plath für ihre linke Herzkammer vorbestellt. Ich arbeite mit einem Endoskop. Damit keine großen Schnitte entstehen, die auffällige Narben hinterlassen. Manche Kunden wollen aber gerade das. Wann hinterläßt Literatur schon so sichtbare Spuren, argumentieren sie.“ Ja, ja, die Literatur. Ähnlich argumentiere z.B. auch ich oft. Schon immer mal wollte ich mir Gottfried Benns „Kleine Aster“ in meinen rechten Nierenstein gravieren lassen; wann geht einem ein Gedicht schon mal so an die Nieren?

Einige Extremisten naschen Asche aus verbrannten Telefonbüchern voller Nummern, die die Ziffern 5, 6 und 7 in der Vorwahl tragen. Crazy, oder? Und weiter? Warum nicht mal eine Dame, die ausschließlich aus Aschetonnen in Hinterhöfen von Mietensembles mit der Hausnummer 11833 mobiltelefoniert? Auch das hätte sicher irgendwas zu bedeuten, würfe ein frappantes Schlaglicht auf unser Heute, klänge zumindest aber recht originell. Eine andere High-Energy-Existenz bringt einer Schlange das Sprechen bei: „Gerade hat Lulu gelernt, mit dem Feld ´Weiß nicht´ den Konjunktiv zu bilden.“ Ich weiß nicht, wie das gehe. Ginge? Gänge? Ist Lulu vielleicht eine den obligatorischen Konjunktiv hinter jeder Verneinung herziehende Französin? Loulou, c´est moi! Egal, Hauptsache, Lulu gewöhnt sich das Lispeln im Plusquamperfekt ab und spricht nicht dauernd mit gespaltener Zunge. Und nimm den Apfel aus dem Mund, wenn Du mit mir redest, Natterngefleuchs.

Einige Geistesblitze sind schon lustig, wie die Theorie, daß Orte, die auf -berg enden, weiter entfernt zu sein scheinen als Orte, die -hausen heißen. Daraus entwickelt Weber ein komisches Ortsnamenentfernungsforschungsprojekt. In manchen Stücken steigt etwas Plastisches aus dem Sprachhologramm, und das folgende, schön komplexe Bild will ich nicht unterschlagen: „In Minutenschnelle hellte es auf, und wir konnten das Spektrum der Blautöne durch das Stroboskop unserer aufgefächerten Finger gleiten lassen.“ In dem Stück „Zeit“ entwickelt Weber überzeugend den Sprachduktus einer Frau, „die keine Zeit verliert“, und nicht „mit angezogener Handbremse“, aber trotzdem in ziemlich rasanten Powerslides durch ihr Leben schleudert, immer wieder „in eine andere RichtungÓ“. Das alles ohne Hintersinn und Realsatire, die literweise zwischen den Zeilen auf eine epiphanische Pointe assassine zuströmen, die das Vorangegangene ins transzendierende Jenseits befördert. Eine echte Biographie, sechs schöne Seiten.

Den Rest möge Ulrich Wickert nach den Nachrichten verlesen; - und während anschließend vor uns der weltumspannende Großzusammenhang des Wetters erläutert wird, kann sich eine Unterabteilung unseres Gedankenapparates mit den aufschlußreichen Schrulligkeiten unseres skurrilen, modernen Lebens beschäftigen. Als Hommage an Kuhlenkampfs „Nachtgedanken“. Guten Abend.


Markus R. Weber: Extremisten. 39 Augenzeugenberichte, Edition Solitude, Stuttgart 1999, 80 S., XX,YY DM