Ausritte auf dem Zeitpfeil. Michael Wallners Roman “Cliehms Begabung” (NZZ, 23.12.00)
Die moderne Physik ist ein Zweig der phantastischen Literatur, um ein Zitat von Jorge Luis Borges über die Philosophie abzuwandeln. Michael Wallner lässt diesen Zweig verblüffende Blüten treiben.
Der Physiker Anton Cliehm lebt zusammen mit der Operettensängerin Tilly in provinziellen Verhältnissen. Sein Leben beschränkt sich auf „Sitzen, Aufundabgehen und Rechnen.“ In seinem tristen Büro im mathematischen Institut mit Blick auf eine graue Mauer hat er jahrelang an seiner Theorie der S.O.C.K.S. gerechnet, die eine Gleichzeitigkeit mehrerer paralleler Gegenwarten verspricht. Nach diesem Rechenwerk kann man zwanglos in unterschiedliche, aber gleichzeitige Situationen schlüpfen wie in zwei verschiedenen, nicht zueinander passende Socken. Die Zeit ist ein ungebügeltes Gewebe mit Faltenwürfen. Nach den Strings wechselt die sonderbar besessene Physik nun scheinbar von gewagten Unterwäscheparadigmen zu etwas weniger anzüglichen Fussbekleidungsaxiomen.
Doch Cliehms Theorie hat eine Laufmasche, seine Gleichung einen Fehler in der dritten Zeile. Aus Verzweiflung über diese Entdeckung reist er nach Lissabon, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Bei seinen mehrfach missglückten Suizidversuchen entdeckt er, dass ihn intensiver physischer Schmerz durch die Zeit zu transportieren vermag. Im Verlauf seiner Abenteuer lernt Cliehm den Zeitpfeil immer besser zu beherrschen. Er experimentiert am eigenen Leib mit seiner Formel. Zwischendurch parkt er seinen ärgsten Instituts- und Liebeskonkurrenten Zinnk in einer Zeitschleife, wo dieser dazu verdammt ist, in ständiger Wiederholung die noch fehlerhafte Cliehmsche Gleichung schwitzend und haareraufend durchzurechnen. Cliehm hat sein Problem erfolgreich in ein Paralleluniversum outgesourcet. Gegen Ende des Romans behebt Zinnk den Fehler. Cliehm wird Herr sämtlicher Gegenwarten. Und regrediert aus Überdruss an seinem Alltag freiwillig in seine Kindheit. Glück ist nur in der Erinnerung, zurück in die Zukunft.
Michael Wallner formt seine Schriftrolle zu einem raffinierten Möbiusband. Kunstvoll jongliert er mit unterschiedlichen Zeitebenen und lässt mit mathematischer Präzision und viel Liebe zu leitmotivisch auftauchenden Personen und Gegenständen die Szenen seines Romans zahlreiche Variationen durchlaufen. Der Plot wird zur eleganten Transformationsgleichung. Das Seil, mit dem sich Cliehm zu Beginn erhängen will, scheint sich im Laufe der Erzählung zum Unendlichkeitszeichen zusammenzurollen, um eine zirkuläre Zeit zu symbolisieren. So sieht man später eine Frau kopfüber an ihm von der Decke hängend ihre Schwangerschaftsgymnastik absolvieren. In ihrem Bauch steht für Cliehms Nachkommen zum ersten Mal die Welt nicht Kopf. In Wallners Text gibt es viel zu entdecken. Das Buch wird zum Zauberwürfel, Rubic´s Book. Der Roman ist wie eine Fuge komponiert, durchzogen von den Arias der Operettensängerin Tilly. Ab und an meint man, im Hintergrund noch das leise Schnurren von Schrödingers Katze zu hören.
„Cliehms Begabung“ ist auch die spannende Abenteuergeschichte einer Flucht aus dem Elfenbeinturm. Pünktlich zur Midlife-Crisis sieht sich der vergeistigte Cliehm auf seiner Odyssee durch die Zeit nun noch einmal mit all seinen Sinneswahrnehmungen und Körperfunktionen konfrontiert. So sehr, dass er sich manchmal wieder in sein entmaterialisiertes Zahlenuniversum zurückwünscht: „ Warum ist das Fleisch so schwer zu überwinden … Wäre ich ein Gedanke, könnte ich schnell sein wie das Licht.“ Nach den Abenteuern der Abstraktion spielt Cliehm seine Formel nun in der Praxis durch. Er kommuniziert mit der Welt, tritt in Kontakt mit den Gegenständen, duzt die Zimmerwände, das Licht und die Luft. Alle antworten höflich. Und als Zeitreisender im Trainingsmodus steht er auf bestem Fusse mit allen Bildnissen des wiederauferstandenen Heilands.
Wallner hält die ganze Erzählung über eine gelungene Balance zwischen mathematischem Denksport, Komik, ironisch kommentierter Existenzverzweiflung und detailgenauer, vom portugiesischen Licht scharf konturierter Poesie. Das lichtdurchflutete, farbintensive Lissabon kontrastiert mit dem neonbleichen Institutsalltag. Während Tilly hinter den Windmaschinen des Provinztheaters die Operette „Die Piratenbraut“ vor den Honoratioren probt, kreuzt der Zeitpirat Cliehm in neuen Dimensionen und erbeutet sechs Monate zusätzliche Lebenszeit in der Hauptstadt einer der klassischen Seefahrernationen.
Der hochgeachtete Physiker wird zum Time Bandit und setzt alles dran, seine kostbare Konterbande in vollen Zügen zu geniessen. Doch anfangs steht Cliehm noch unter dem Lebensgesetz seiner fehlerhafte Formel. So beherrscht er das Zappen zwischen den Zeiten noch nicht richtig und stürzt etwas orientierungslos durch die Wurmlöcher in der Textur der Zeit wie Alice durch die Kaninchenbauten ins Wunderland. Passagenweise bietet die Erzählung metaphysischen Slapstick. Der Held kippt von Fensterholmen, stolpert Treppen herab, tritt auf „Tillys Fussreflexzonenmassageroller“, springt in die Tiefe und „ wird in Sand paniert“. Jahrzehntelang hat Anton Cliehm die Zeit als Variabel in seinen Gleichungen verschoben, sie gekürzt oder in die dritte Potenz gehoben. Nun wird er zum ihrem Spielball.
In konsequenter Anwendung von Cliehms Theorem der möglichen Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Gegenwarten hat Michael Wallner parallel zu seinem mathematischen Gedankenspiel noch den Roman „Manhattan fliegt“ veröffentlichst. Cliehms Begabung ist ausserordentlich. Michael Wallners nicht minder. Seine Prosagleichung geht fehlerfrei auf.
Michael Wallner: Cliehms Begabung. Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2000, Gebunden, 320 S., Fr. 37,00