Subkontinent im Subtext. Jhumpa Lahiris Erzählungsband “Melancholie der Ankunft” (FAZ, 18.02.01)
Wie Christoph Kolumbus versuchte, nach Indien zu gelangen, ist hinlänglich bekannt. Wie sich Exil-Inder in Amerika zurechtfinden, schildert Jhumpa Lahiri in ihrem Debüt-Erzählband. Die neun Erzählungen der in den USA aufgewachsenen Tochter bengalischer Eltern kreuzen auf den unübersichtlichen Gewässern zwischen den Kontinenten. Drei ihrer Erzählungen spielen in Indien, die restlichen sechs unter indischen Einwanderern in den USA. In Indien „klaubt man Steinchen aus dem Abendreis“, in den USA kauft man „Fläschchen mit zellgenerierender Flüssigkeit“ auf Kredit. In eleganter, klassischer Prosa und ohne der Versuchung orientalischer Henna- und Gewürzsackfolklore zu erliegen, erzählt Lahiri Schlüsselmomente unterschiedlicher Existenzen in der Fremde. Die Autorin orientiert sich dabei an dem lakonischen Understatement der amerikanischen Short Story, statt an der barocken Üppigkeit eines magischen Realismus´. Doch im Subtext ruht ein Subkontinent.
Die Erzählung „Dolmetscher kleiner Unpäßlichkeiten“ gibt den Titel der amerikanischen Ausgabe und ist programmatisch: Lahiri übersetzt die ganz gewöhnlichen Unpäßlichkeiten in ihre Sprache. Den Verlust der Liebe, kleine und etwas größere Betrügereien, Einsamkeit und Heimweh. Alltägliches Leid, unspektakulär, aber ein anderes gibt es nicht. Der Schlußsatz des Erzählungsbandes resümiert noch einmal die Grundstimmung aller vorangegangener Texte: „So wenig ungewöhnlich das alles sein mag, gibt es doch Momente, da es meine Vorstellungskraft übersteigt.“ Es geht um den Gott in den kleinen Dingen.
In diesen Erzählungen stehen die Menschen einander gegenüber wie fremde Kontinente. Die ziemlich arrangierten Heiraten bringen Mann und Frau dabei nicht eben näher. Aber man gewöhnt sich an alles und jeden: „So seltsam es schien, wußte ich tief im Innern doch, daß ihr Tod mich einmal treffen würde und, noch seltsamer, daß mein Tod sie treffen würde.“ Einige Erzählungen kreisen um ein Geheimnis ihrer Helden, das deren Biographie melancholisch einfärbt. Lahiri zeigt ihre Personen in dem Moment, wo ihr Innerstes kurz an die Oberfläche des Alltags taucht.
In der Erzählung „Dolmetscher kleiner Unpäßlichkeiten“ umringt eine Horde fast schon mythischer Affen im rituellen Dekor einer indischen Tempelanlage ein uneheliches Kind, als wären die zähnefletschenden Tiere die inkarnierten Gewissensbisse der Mutter. Und entsprechend kratzbürstig sind die unheimlichen Affen auch: „Der Junge war verstummt, erstarrt; Tränen liefen ihm rasch über das erschrockene Gesicht. Seine Beine waren staubbedeckt und rot von den Striemen, die ihm einer der Affen mit dem Stock, den er ihm zuvor gegeben hatte, beibrachte.“ Gezeugt wurde der uneheliche Sohn auf dem Wohnzimmersofa zwischen dem „Beißspielzeug“ seines Halbbruders. Nun wird er zum Beißspielzeug der ausgehungerten Tempelaffen. Die schon stark amerikanisierte indische Auswandererfamilie wird auf der Reise in das Land ihrer Herkunft mit den Dämonen hinter der Fassade ihrer Beziehung konfrontiert. Unterschwellig entwickelt sich dieser Text zur fantastischen Erzählung: „´O Gott, nichts wie weg hier“, sagte Mrs. Das. Sie verschränkte die Arme über der Erdbeere auf ihrer Brust. ´Ich find´s hier unheimlich.´“ Unter dem fruchtig-verführerischen amerikanischen Motiv-Shirt schlägt ein sündiges, ertapptes Herz.
Lahiris Stil bleibt zurückhaltend und verzichtet auf die große Geste. Aber die kleinen Gesten sind von symbolischer Mehrdeutigkeit und tragen kondensierte Biographien in sich. Auch die Gegenstände werden zu Symbolen überhöht und bilden ein lyrisch federndes Bedeutungsgeflecht. Bei der zweiten Lektüre offenbaren die Texte ihre geheimen Symmetrien, ebenso wie die Personen kurz ihr psychisches Innenfutter durchschimmern lassen. Die unterschiedlichen Personenkonstellationen spiegeln einander wider. In ein und derselben Erzählung werden parallele Schicksale gegenläufig variiert und in unterschiedlichen Tonlagen moduliert. Lahiris Sätze sind einfach, elegant und voller suggestiver Kraft. Mit Vergleichen und Bildern geht sie sparsam um und setzt auf ihre Originalität: „Von seiner äußeren Hülle befreit, berührte Mr. Pirzada mit seinen kurzen, unruhigen Fingern leicht meinen Hals, so wie man die Festigkeit einer Wand prüft, bevor man einen Nagel einschlägt.“ Jeder Text dringt schnell zum Wesentlichen vor. Bravourös beherrscht die Autorin die Ökonomie der Short Story: „Im Herbst 1971 kam jeden Abend ein Mann zu uns, mit Süßigkeiten in der Tasche und voller Hoffnung, etwas über Leben oder Tod seiner Familie zu erfahren“, beginnt sie ihre zweite Erzählung. In Amerika belohnte man sie für so perfekt assimilierte Kultur mit dem diesjährigen Pulitzer-Preis und freut sich schon mal unisono auf ihren ersten Roman. In diese Vorfreude kann man getrost mit einstimmen.
Selbst wenn man diese Erzählungen auf der Überfahrt von Indien nach Amerika bei Sturmstärke 10 lesen sollte, wird man mit Sicherheit ein Gefühl tiefer innerer Ruhe verspüren. Jhumpa Lahiri scheint einen Yogi-Zauber zwischen die Zeilen gehext zu haben. Das Lesen dieser ruhigen Texte gleicht einer bewußtseinserweiternden Atemübung. Die letzten Seiten der letzten Erzählung betrachten eine ganze Existenz aus der Vogelperspektive und verströmen dieselbe losgelöste Schönheit wie die Erzählung „Die Toten“ aus Joyce´s „Dubliners“. Der Titel der deutschen Ausgabe ist erstaunlich gut gewählt. Die größte Melancholie der Ankunft stellt sich bei Erreichen des Textendes ein. Bleibt nur zu hoffen, daß die Urteilskraft des Rezensenten durch das Autorinnenportrait nicht allzu sehr getrübt wurde, denn Jhumpa Lahiri verströmt entschieden mehr losgelöste Schönheit als James Joyce.
Jhumpa Lahiri: Melancholie der Ankunft, Aus dem Englischen von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag, München 2000, 256 S., geb., 36 DM