Papa, was ist ein Tartuffe? Tahar Ben Jellouns Aufzeichnungen aus dem Gutmenschloch: “Das Schweigen des Lichts” und “Labyrinth der Gefühle” (FAZ, 09.10.01)
Die Fakten: Im Juli 1971 schlägt ein Attentat auf den marokkanischen König Hassan II. fehl. Die Anführer des Staatsstreiches werden erschossen, die Ausführenden, größtenteils junge Offiziersschüler, wirft man ins Gefängnis. Zwei Jahre später werden sie verlegt, verschwinden für 18 weitere Jahre, keiner weiß, wohin. Anfang der 80er Jahre zirkulieren die ersten Informationen: Die Gefangenen sitzen in nachtschwarzen Folterzellen in Tazmamart im Atlasgebirge. Unter dem Druck von Menschenrechtsgruppen und der internationalen Gemeinschaft werden die Überlebenden im Oktober 1991 befreit. Tazmamart wird zum Symbol eines repressiven Staates. 28 von 58 Inhaftierten haben die Torturen überlebt. Einer davon ist Aziz Binebine.
Der Skandal: Seit 1971, dem Jahr des mißlungenen Putsches, lebt der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun in Frankreich. 1987 erhält er den angesehenen Prix Goncourt. Immer wieder predigt der marokkanische Autor Mut zu Zivilcourage und Engagement für die Menschenrechte. Er scheint das zolasche „J´accuse“ zu seinem Motto erkoren zu haben. Doch bis zum Tod von Hassan II. im Sommer 1999 hat er sich niemals kritisch zur politischen Lage in Marokko geäußert. Von Hassan II. ließ er sich als Ehrengast empfangen. Ab 1981 werden erste Briefe aus Tazmamart geschmuggelt und von Menschenrechtlern veröffentlicht. 20 Jahre später und neun Jahre nach Öffnung des Folterkellers von Tazmamart nimmt sich Ben Jelloun der Geschichte an. Er wählt sich Aziz Binebine als Gewährsmann.
Der Roman „Das Schweigen des Lichts“ beruht auf den Erzählungen des Überlebenden. Binebine sagt, er habe schließlich den „Belästigungen“ des renommierten Autors nachgegeben. Letzterer sagt, er habe niemanden gezwungen, ihm die Geschichte zu erzählen. Die Geschichte ist viel wert, der Verlag bietet 800.000 FF (250.000 DM) Vorschuß. Jelloun bietet Binebine 10%. Der lehnt die „Almosen“ empört ab. Man einigt sich auf 50%. Tahar Ben Jelloun steht im Kreuzfeuer der Kritik, viele erzürnen sich über ein verspätetes, risikolose und gewinnträchtiges „J´accuse“. Ben Jelloun will 50% seines Honoraranteils einer marokkanischen Menschenrechtsorganisation spenden. Die bedankt sich: von so einem „Typ“ könne man kein Geld annehmen.
Nun muß menschliche Fragwürdigkeit einen Autor nicht unbedingt davon abhalten, ein gutes Buch zu schreiben. In Jellouns Fall leider doch. Der Autor läßt seinen fiktiven Ich-Erzähler Salim vom ersten Satz an eine rührselige, verkitschte Light-Show veranstalten. Er schreibt direkt auf des Lesers Tränendrüsen. Dabei weiß er, daß Tränen eine fatale letzte Ölung sind: „Die Tränen reinigten sein Gesicht, das der Tod bald küssen würde.“ Alle abgegriffenen Metaphern und Vergleiche zwischen den Polen Licht und Dunkelheit werden durchdekliniert. In der Mitte des Romans bricht das Licht kurz sein Schweigen: „Ich war zu jenem bewundernswerten Stadium vorgedrungen, an dem man seinen Körper dem Schluchzen des Lichtes anbietet.“ Nach diesem mystischen Seufzer fällt das Licht wieder in sein Schweigen zurück.
Das Leid der Gefängnisinsassen nimmt Jelloun zum Anlaß, eine rhetorisch aufgeblasene Heilsgeschichte zu inszenieren, in der sein Erzähler Salim eine konzentrierte Vergeistigung als Strategie gegen die unerträgliche Realität des Folterkerkers wählt. Dieses vermeintlich spirituelle Abenteuer wird mit allen stilistischen Mitteln der Vulgärhagiographie erzählt. In jedem Absatz steht mindestens ein Ex-Voto-Stereotyp. Ben Jelloun erleidet eine stilistische Regression hin zu den Symbolen, Allegorien und Bildern der internationalen Pubertät. Von Regenbogen bis Schmetterlingsmotiv ist alles dabei: Herz, Tunnel, Nacht, Kerze, Sanduhr - der gesamte Sprachtrödel des simulierten Sentiments. Im Vergleich dazu ist das Hausblatt der Zeugen Jehovas „Erwachet!“ ein literarisch avanciertes Prosawerk. Jede Überlebensmaxime des Erzählers ist eine wurmstichige Bauernweisheit. Das spirituelle Wartezimmer, in dem der Erzähler der Erleuchtung harrt, hängt voller Kalendersprüche: „Ich mußte bereit sein, alles zu verlieren und nichts zu erwarten, um dieser ewigen Nacht besser gewappnet gegenübertreten.“ Wie aber soll der Leser dieser ewigen sprachlichen Umnachtung gegenübertreten? Jelloun scheint den Textbodensatz einer Raï-Juke-Box geplündert zu haben.
Die Gefangenen verwandeln sich langsam in einen engagierten Betzirkel mit prophetischen Traumgesichtern und telepathischem Kontakt zu Familienmitgliedern. Die Dialoge klingen, als probte eine Klasse von Internatsschülern ein aufwühlendes Kerkerdrama. Auch die Wärter hören sich nach schlampig synchronisiertem B-Movie an: „Ihr seid zu ewiger Finsternis verdammt. Das Licht werdet ihr nie mehr wiedersehen. Die Befehle sind eindeutig. Finsternis, Wasser und Trockenbrot. Weg mit euch!“ In den realistischeren Szenen kippt der Roman in eine alberne Horror-Farce: „Alle Skorpione der Gruft klebten an Mustafas gemartetem Körper. Die Killertiere mußten aus der Gruft entfernt werden.“ Der Angriff der Killerskorpione kann erfolgreich abgewehrt werden. Der Todesstachel der Trivialliteratur nicht.
Das „Schweigen des Lichts“ ist literarisch unterbelichtetes Geschwätz aus der geistigen Dunkelkammer. Die effektheischende rhetorische Verbrämung schrecklicher Schicksale fängt mit der paradoxen Synästhesie des Titels an und zieht sich durch das ganze anästhesierende Werk. Von der immergleichen Bohnenkost in Tazmamart hat der Erzähler rhetorische Blähungen bekommen. Ben Jelloun begräbt seinen Leser bei lebendigem Leib unter einem Atlas-Gebirge von sentimentalen Platitüden. Leere Sprachhülsen, aufgebläht zu gehaltlosem Phrasen-Pop-Corn: „Die Hoffnung lief auf eine Negation der Realität heraus.“ Tautologisch mahlt die Mühle allegorischer Besinnungs- und Gesinnungsprosa, und regelmäßig meldet sich der wiederauferstandene Chor der griechischen Tragödie mit all seinen Wehlauten, seinen Achs, Ohs und Wehs zu Worte. Der Vokabelgenerator läuft, das Kontrollzentrum schlummert im Stand-By-Modus. In zwanghaftem Dreisprung hüpft der Autor durchs Synonymwörterbuch: „Es war eine Lernerfahrung, ein notwendiger Irrsinn, eine unbedingt zu bestehende Prüfung.“ Mehr Trikolon war nie. Jelloun legt seinem Erzähler eine Fußkugel bleiernster Sprachfiguren an. Unzählige Substantive werden durch den Genitiv zu beliebigen, starren Metaphern aneinander gekettet.
Vor was machen Jellouns verschwiemelten Eseleien halt? Vor nichts: „Vom Hügel gegenüber betrachtete mich ein Esel mit jenem betrübten, traurigen Ausdruck, den die Tiere aufsetzen, wenn sie mit dem Leiden der Menschen mitfühlen wollen.“ Besessen vom Dschinn des Unsinns, mutiert der Erzähler zum Heiligen Franz von Assisi, kommuniziert mit allerlei Federvieh und hört den Wetterbericht aus dem Gezwitscher eines Spatzen heraus. Warum nicht den Aktienkurs des Club Méditerranée? Vom Kofferraum eines friedensbewegten Religionslehrers verirrt sich gar das Abziehbildchen einer weißen Taube in die Zelle: „Sie war vom Himmel gefallen wie eine Botschaft oder ein Irrläufer. Eine Taube war in den zentralen Lüftungsschacht geschlüpft und in das dichte Schweigen unserer Finsternis gefallen.“
Mit für einen Goncourt-Preisträger unglaublicher erzähltechnischer Steifheit mißbraucht Ben Jelloun imaginäre Briefe und Dialoge zu ungeschlachten Vehikeln für Leserinformationen: „Weißt du noch, als Vater dir wehtat und das ganze Geld der Familie verjubelte.“ Am unverfrorensten sind jene Passagen, in denen Ben Jelloun seinen Erzähler als intellektuelles ?–Tierchen und Märchenonkel auftreten läßt, der mit albernen Schnurren seine Kameraden unterhält: „Erzähl mir eine Geschichte oder ich sterbe.“ Hier versucht der Autor, Literatur als Survival-Kit in der Not zu feiern und betreibt unter der Hand doch nur Propaganda für seine schäbige Erzählkunst: „Gib uns ein wenig von deiner Vorstellungskraft ab“. Dabei wäre dieser Roman gerade gut, einen Skorpion zu erdrücken. Welches Buch würden Sie mit in eine nachtschwarze Zelle nehmen? „Das Schweigen des Lichts.“
Umweht von den feinen Arabica-Düften der Pariser Salons hat der Rosenwasser-Literat Tahar Ben Jelloun eine wahre maghrebinische Tragödie zu einer billigen Kerker-Schnulze verwandelt. Er verhökert geliehenes Leid mit schamlosem Wucherzins. Sein Gewährsmann Aziz Binebine hat nicht nur 18 Jahre in einem grausamen Foltergefängnis gesessen, sondern muß nun seine Biographie auf ewig mit 250 Seiten unzumutbarer Schundliteratur verquickt sehen. Ihm ist der Roman gewidmet. Ben Jelloun fuchtelt mit seinen grellen Lichteffekten sogar noch in der Widmung herum: „Ich widme (den Roman) Aziz sowie Réda, seinem kleinen Sohn, dem Licht seines dritten Lebens.“ Ein generationsübergreifender Fluch.
Doch es scheint eine literarische Gerechtigkeit zu geben. Zumindest ein Schuldiger wird mit der verspäteten Streitschrift „Das Schweigend es Lichts“ überführt: der Autor selbst. In Jellouns Stil offenbart sich seine Weltsicht oder um es mit Buffons Worten zu sagen: „Le style, c´est l´homme.“ Nicht nur die Umstände der Veröffentlichung, sondern auch die literarischen Merkmale dieses Romans zeigen: Sein Autor ist zutiefst abgeschmackt. Wer eine handfeste Kerker-Soap lesen möchte, greife zum ersten Band von Alexandre Dumas „Graf von Monte Christo“ oder zu Henri Charrières „Papillon“. Wer einen authentischen Text über das Gefängnis von Tazmamart lesen möchte, wähle den Augenzeugenbericht „Tazmamart, Cellule 10“ (Editions Paris-Méditerranée, Janvier 2001, 324 pp., 110 FF) des Überlebenden Ahmed Marzouki, für den sich bislang noch kein deutscher Verlag interessiert hat.
Tahar Ben Jellouns Sprachkitsch dringt nicht nur in düstere Kerker, er findet auch in sonnendurchflutete Labyrinthe. Die Gutmenschelei nimmt er gleich mit. Minotaurus möchte man sein. Der dünne Roman „Labyrinth der Gefühle“ führt nach Neapel. Neapel sehen und schwallen. Das Gassengewirr spiegelt hier die Irrungen und Wirrungen der Protagonisten. Der Ich-Erzähler Gharib ist ein alternder marokkanischer Dichte, der nach einer tragisch geendeten Liebe den Frauen vorerst abgeschworen hat. Aber dann kommt Wahida. Sie ist jung, hat den brodelnden Vesuv unter den verführerisch gewölbten Brüsten und die Capri-Sonne im Herzen. Die Inkarnation einer Altherrenphantasie. Wahida ist maghrebinische Prostituierte, die in Neapel in die „Fänge“ der Camorra geraten ist. Gharib kauft sie frei, liest ihr Gedichte vor, die Hure ist hin und weg, fast schon auf dem Weg zur Heiligen.
Auch in diesem Text gibt der Erzähler den guten Menschen von Marrakesch und kriegt mit der Masche die junge Hübsche rum: „Ich fühle mich geborgen bei dir. Ich sage es noch einmal: Du bist der erste Mann, der mir die Hand gereicht, meine Hand mit Gefühl ergriffen hat.“ Die manuelle Geborgenheit schaukelt sich hoch, bis es zu einem lyrischen Striptease kommt: Der Poet liest zwei, drei Zeilen, die Besungene entblößt einen Teil ihres „in Begehren gemodelte(n) Körper(s)“. Bei der Genitiv-Metapher „Atem der Seele“ fällt schließlich der Schlüpfer. Doch den Atem des Fleisches fürchtet der Dichter, die alten „Wunden“ sind noch zu frisch. Keusch möchte er ihr das Tränensalz aus den Schlüsselbeingrübchen lecken. Mehr als platonisch ist nicht. Dafür hat der versalzte Asket trainiert: „Jahrelange Jogaübungen und die Lektüre der Sufidichter hatten mich darauf vorbereitet.“ Wutentbrannt flüchtet Wahida vor dem Jogagreis und Faselderwisch in die „Fänge“ der wortkargen albanischen Mafia. Die liest ihr wenigstens keine Gedichte mehr vor.
Auch in diesem Buch glänzt Tahar Ben Jelloun wieder mit verschlungenen Kitscharabesken. Tauben auch hier, diesmal als Ursprung allen Dichtens: „Wenn eine vor Einsamkeit verendete Taube mich entsetzt anblickt / Schreibe ich Gedichte.“ Der Roman ist ein öliges Potpourri aus Baedeker-Poesie, präseniler Frauenkunde und genereller Lobpreisung der Pizza Napoli. Neapel ist dermatologische Heilkur: „Neapel hat mich eingehüllt, mit reinstem Olivenöl eingerieben.“ Der Mann muß über einen Kraftdünger für Stilblüten verfügen. Die Frauen sind so geheimnisvoll wie die mythenumwitterte Stadt. Für zwei Sätze fliegt den Erzähler gleißende Klarsicht an: „Ja, du hast Recht, ich liebe (die Frauen), aber meine Tragödie ist, daß ich sie nicht verstehe. Sie interessieren und fesseln mich, doch alle meine Liebesgeschichten gehen daneben.“ Aber Schreiben ist einfach zu schön. Und El Greco? „War jemand, der mit einer unglaublichen Menge Licht in Körper und Seele lebte.“ Schweigendem oder schluchzendem? Auch dieser Roman ist sein eigener Klappentext. Man meint, das Hohe Lied der Liebe in einer Bearbeitung von Wolfgang Petry zu lesen: „Sie küßte mich stürmisch (…) Es war Wahnsinn.“ Hölle, Hölle, Hölle.
Man kann das „Labyrinth der Gefühle“ im Flugzeug nach Neapel überfliegen, um im schönen Klang der Straßennamen zu schwelgen. Unterdessen wird es für Tahar Ben Jelloun sehr schwierig zu beweisen, daß er mehr als ein exilierter Schundautor ist. Politisch korrekte Themen benutzt er als Alibi für triviale Bahnhofsliteratur. Bis zum Beweis des Gegenteils muß Tahar Ben Jelloun nicht nur als politischer, sondern auch als literarischer Skandal begriffen werden.
Tahar Ben Jelloun: Das Schweigen des Lichts. Roman, Berlin Verlag, Berlin 2001, 252 S., XX,YY DM
Tahar Ben Jelloun: Labyrinth der Gefühle. Roman, Rowohlt Paperback, Reinbek 2001, 124 S., 21,51 DM