Stephan Maus

Ersi Sotiropulos: ‘Bittere Orangen’ (SZ)

Gummitwist mit Schicksalsfäden: Ersi Sotiropoulos’ mediterrane Tragikomödie “Bittere Orangen” (Süddeutsche Zeitung, 01.12.01)

In Athen herrscht sirrende Hitze. Lia liegt im Krankenhaus und leidet an einer unerforschten Erkrankung ihres Immunsystems, das fieberhaft gegen imaginäre Viren kämpft und sie dabei innerlich zerfrißt. Regelmäßig bekommt sie Besuch von ihrem Bruder Isidoros, kurz „Sid. Isidoros Vicious. Anwesend.” Sid ist nicht direkt eine Sex Pistol und auch nur gemäßigt revoltiert. Sein Protest drückt sich vorwiegend in lustlosen Spuckattacken in Richtung Fernsehbildschirm aus: „Wenn ich den gelben Blazer treffe, stehe ich auf und hole ein Bier, sagte er und spuckte. Die Spucke flog zum Fernseher und klebte drei Zentimeter unter dem Ziel wie ein zerquetschter Wurm. Du bist fertig, hörst du? Wenn ich den Springbrunnen treffe, trinke ich nichts mehr, sagte er und spuckte wieder. Bingo!“ Sid und Lia verbindet eine leicht kommunikationsgestörte Zärtlichkeit. Am besten können sie geschwisterlich schweigen.

Die sommerliche Hitze lastet immer schwerer, die Akropolis bröckelt antik so vor sich hin, auch Lia wird immer hinfälliger, fühlt sich dem Krankenhausbetrieb immer ausgelieferter und entwickelt langsam latenten Verfolgungswahnsinn. Sie fühlt sich von dem Krankenpfleger Sotiris, dem „Musterschüler“, erniedrigt. Auf Lias Bitte hin entwickelt Sid einen Racheplan. Er stellt sich dem schwer verklemmten Pfleger als ein ehemaliger Klassenkamerad vor, schleicht sich langsam in sein Leben ein und versucht, den Eigenbrötler zu bedrängen. Doch Sotiris steht derart lethargisch in der Welt, als wäre er sein eigener Pflegefall und ist in seiner leptosomen Einsamkeit so dankbar für jede Zuwendung, daß er die Fiktion nur zu gerne glaubt.

Von nun an knüpft Ersi Sotiropoulos ihre Handlungsstränge wie eine listige Parze, die ihre ahnungslosen Kreaturen zwischen verworrenen Schicksalsfäden Gummitwist springen läßt. Verhedderung ist Programm. Der schön straff zu neunzehn gleichlangen Kapiteln verschnürte Plot liest sich wie eine elegante Stilübung zum Thema tragische Ironie. Nichts kommt so, wie es die symmetrisch aufgestellten Figuren planen. Und in diesem Roman wird viel geplant: Hochzeiten, Morde, Rache und eine finale Hahnenjagd, die im Suppentopf enden soll. Der viciöse Sid verhindert einen Mädchenmord in der Provinz. Der trampelige, käsige und gewalttätige Krankenpfleger spannt seinem neuen Kumpel Sid die Geliebte aus, ohne es überhaupt zu merken. Die verführerisch gleichschenklige Julia mit ihrem koboldgleichen Dreiecksgesicht mutiert unversehens zur Hypotenuse und hängt plötzlich in einer komplizierten Dreiecksbeziehung. Zwischen dem rächenden Bruder und dem verklemmten Pfleger entsteht tatsächlich so etwas wie Freundschaft. Nur Lia muß sterben, ohne dabei jedoch ihren galligen Humor zu verlieren, der so schwarz ist wie das Gefieder von Sids zahmem Beo. Schlußendlich kommt dem Rabenvogel in einem grotesken Finale noch ein klassischer antiker Flugeinsatz zu: „Der Beo als Deus ex machina. Das ist eine Geschichte für meine Schwester, dachte Sid. Und er konnte nicht glauben, daß sie nicht mehr da war, um sie zu hören.“

Obwohl der Titel Schlimmes ahnen und das ästhetische Empfinden des Lesers vor Schaudern zu bitterer Orangenhaut zusammenschrumpeln läßt, hat Ersi Sotiropoulos einen sehr lesenswerten Roman geschrieben, der seine Originalität aus einer kuriosen Mischung aus schwarzem Humor, blues-bläulicher Traurigkeit und neongrell erleuchteter Erbarmungslosigkeit bezieht. „Bittere Orangen“ ist ein Zwitterwesen aus antik anmutendem Drama und Komödie. Die Autorin zeigt viel Sinn für dramaturgische Komik, wobei es ihr erstaunlicherweise trotz all der aberwitzigen Permutationen des absurden Plots gelingt, einen Text voller Wehmut, Melancholie und mal schwelender, mal explodierender Gewalt zu verfassen. Streckenweise nimmt der Roman die Formen eines Psycho-Thrillers à la Patricia Highsmith an und erzeugt die gleiche Spannung: „Die Kleine rannte voraus. Ich hatte recht, dachte sie, als sie in die Nähe der Oleanderbüsche kam. Vor kurzem ist jemand hiergewesen, aber jetzt ist er weggegangen. Die Oleanderbüsche waren heruntergetreten, und eine Zigarette glimmte noch. Jemand hatte viel Zeit dort verbracht. Jemand, der sich versteckt hielt.“ Jemand, auf den wir verdammt neugierig sind.

In trockenem, lakonischem Stil berichtet Sotiropoulos von einer Handvoll unglücklicher Kauze, zwischen denen immer wieder wie zufällig menschliche Wärme entsteht, vor der jedoch alle Beteiligten so ratlos stehen wie vor einer besonders perfiden Immunstörung. Aus den Landschaftsbeschreibungen strahlt dasselbe gleißende Licht wie aus Albert Camus algerischen Prosaszenerien. Und auch in diesem Existenzamphitheater fremdeln alle Personen um die Wette. Nicht nur Lias Immunsystem kämpft gegen einen eingebildeten Virus, sondern alle Personen scheinen allergisch gegen sich selbst zu sein. Die Landschaft vor Athen gleißt ebenso grell wie die neondurchfluteten Krankenhausflure. Doch glücklicher wird man zwischen den silbrig blinkenden Oliven- und Orangenbäumen auch nicht. Nicht einmal eine Klingel für das Pflegepersonal gibt es hier.

Die unschuldigste und ergreifendste Figur ist die pubertierende Nina, die ihren Sommerschwarm still und stolz aus sicherer Ferne anhimmelt, all die „Scheintoten“ um sich herum verachtet, sich ihre jungen Mädchenknie aufschneidet, damit sie endlich mal etwas Wirkliches, endlich mal etwas Persönliches fühlt, ihre Liebe mit Monicas autosuggestivem Sommerhit The boy is mine beschwört und heimlich Texte schreibt, die vor allem keine Literatur sein wollen: „´Du solltest wissen, daß das hier keine Literatur ist.´ ´Literatur finde ich sowieso nicht gut.´ ´Heiliger Himmel, ist die bescheuert! Wenn du Literatur nicht gut findest, warum machst du dann das hier?´ sagte sie und wedelte mit dem Heft. ´Schreiben finde ich gut´, sagte Nina knapp.“ In Nina kann man ein kleines, verzerrtes, sympathisches Spiegelbild der Autorin sehen. Der letzte Satz des Romans ist ihr trotziges literarisches Credo: „Ich kann schreiben, was mir gefällt.“ Solange dabei solche Bücher herauskommen, ist dagegen nichts einzuwenden.


Ersi Sotiropulos: Bittere Orangen. Roman, Aus dem Neugriechischen von Doris Wille, Dtv, München 2001, 200 S., 28 Mark