Stephan Maus

Liza Marklund: ‘Paradies’ (Literaturen)

Fahrtenschwimmer durchs Tal der Tränen. Liza Marklunds Krimi “Paradies” (LITERATUREN, 7-82002)

Also noch ein schwedischer Krimi. Bald wird man eine ganze Ladung zusammen mit dem Regal Billy zum Aktionspreis bei Ikea kaufen können. Annika Bengtzon ist Journalistin beim Stockholmer Abendblatt, einer Tageszeitung mit bedrohlicher Nähe zum Boulevard. Sie kämpft sich durch Nachtschichten und aus dem Takt geratenen Biorhythmus und wartet auf die große Story, die sie zur anerkannten Reporterin machen wird. Die Story läßt nicht lange auf sich warten und macht Annika zur Reporterin und Liza Marklund zur neuen schwedischen Bestseller-Autorin.

An den Zollanlagen des Stockholmer Hafens, in einer dramatischen Orkan-Nacht, in einer kinoreifen Kulisse, geschieht ein doppelter Mord. Alles deutet auf Rivalitäten beim Zigarettenschmuggel aus dem ehemaligen Jugoslawien hin. Die Kriminalredaktion des Abendblattes recherchiert, und die ehrgeizige Annika ist der hellste Kopf im Team. Sie trägt Informationen über die außergewöhnliche Stiftung „Paradies“ zusammen, die es verfolgten Frauen ermöglicht unterzutauchen. Schnell stößt Annika auf die Bosnierin Aida, die auf der Flucht vor dem serbischen Killer und Schmugglerkönig Ratko ist. Sie gibt ihr die Adresse zum „Paradies“. Doch die hochkonspirative Stiftung ist nicht unproblematisch, sondern ein großangelegter Versuch, das schwedische Sozialamt zu betrügen. Die Vorstandsvorsitzende des Paradieses ist der Teufel. Besonders sicher ist man nicht unter den Geier-Fittichen der Stiftungsmitglieder. So knüpft Liza Marklund ihren Konflikt: Ratko jagt Aida, die Unterschlupf bei der fragwürdigen Organisation findet. Auf ihrer Recherchereise ins Innere des schwedischen Sozialstaates enthüllt Annika die wenig paradiesischen Machenschaften der Stiftung. Aidas Bedrohung wächst stetig.

Das ehemalige Jugoslawien ist nicht nur zum chaotischen Selbstbedienungsladen für Politiker und Kriminelle geworden, sondern auch für Autoren auf der Suche nach einem flotten Thriller-Plot mit Aktualitätsbezug. Schon kaum mehr zu zählen sind die gastarbeitenden Killer, Sniper und Geheimdienstler, die Serbien in die europäische Thriller-Literatur entsendet. Ob bei Juli Zeh, Leif Davidsen oder neuerdings auch bei Liza Marklund: serbische Paramilitärs finden ein neues Betätigungsfeld als bedrohlich scharf gezacktes Schwungrädchen in der Erzählmechanik.

Die junge Journalistin Annika wandelt nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. In Notwehr hat sie ihren Ex-Verlobten Sven ermordet: „Als ich Schluß machen wollte, schlitzte er meine Katze mit dem Messer auf. Mich wollte er auch umbringen. Ich habe ihm einen solchen Schlag versetzt, daß er in einen alten Hochofen gefallen ist.“ Das stürzt die Totschlägerin in zyklische Depressionen. In Annikas linkem Innenohr pfeift die Einsamkeit. Ihre geliebte Großmutter stirbt an einem Hirnschlag. Annikas Trauer kippt ins Hysterische, denn zu Lebzeiten war ihr die Großmutter Lebensstütze und Rettungsanker und versorgte sie mit Weisheiten im geschmeidigen Sprachduktus von indianischen Stammeshäuptlingen: „Das war nicht gut, daraus ist eine Trauer in ihrer Brust geworden, die niemals stirbt“, versucht die Oma die Gefühlskälte von Annikas Mutter zu rechtfertigen. Diese Mutter ist wenig umgänglich und spricht wie eine böse Märchenhexe: noch am Totenbett der Großmutter übergießt sie Annika mit blankem Haß. Annikas Kindheit war nicht leicht: Ihr Vater hat sich zu Tode gesoffen. Doch auch die Gegenwart ist kein Zuckerschlecken: In einer winterlichen Garage steckt ihr ein serbischer Killer den Lauf einer Maschinenpistole zwischen die klappernden Zähne. Und in einer Nacht voller lodernder Leidenschaft wird sie schließlich schwanger von einem ehebrechenden Sozialkämmerer in vorgezogener Midlife-Crisis, der nach vollzogenem Akt nichts mehr von ihr wissen will.

Bei aller aufrichtigen Liebe zur dramaturgischen Zügellosigkeit des Krimi-Genres: Liza Marklund langt allzu ungehemmt in den Tragödienfundus. In Annika läuft alles Elend Schwedens zusammen. Ihre beste Freundin benennt das Problem in einem Besten-Freundinnen-Dialog, der sich liest wie der dramatisierte Ratgeber-Teil einer Frauenzeitschrift: „Bitte, Annika, nimm nicht die Schuld für alle Problem dieser Welt auf dich. Ich weiß, daß du eine Weltverbesserin bist, aber es muß Grenzen geben, und jetzt hast du sie überschritten. Du klingst völlig fertig.“ Die völlig fertige Weltverbesserin schlindert von Nervenzusammenbruch zu Sinnkrise und zurück. Alle zehn Seiten läßt sie „den Schmerz an sich herankommen“ und vergießt bittere Zähren, die in ihren billigen Rotwein aus dem Tetra-Pak tröpfeln. Marklund destilliert eine Phänomenologie der Tränen: „Wieder weinte sie, aber es waren keine verzweifelten Tränen, sondern warme und traurige.“ Nach dem vierten Heulkrampf hat Annika jegliches Mitgefühl des Lesers endgültig weggeschwemmt.

Marklund scheint mehr zu wollen als einen geradlinigen, handfesten Krimi und führt unzählige Nebenhandlungen in ihren Plot ein, in denen sie versucht, ihr melancholisches Bild der Welt und des Lebens an sich unterzubringen. Bald knüpft sie an einem unhandlichen gordischen Konfliktknoten, in dem genug Nebenhandlungssträngen zusammenlaufen, um daraus eine üppige Makrameeblumenampel flechten zu können. Und genau das macht Marklund. Diese blumigen Ausschmückungen um all die Tragödien ihrer Heldin herum verwässern den Roman und siedeln ihn so nahe beim Boulevard an wie das Abendblatt, in dem Annika ihre Sozialromanzen publiziert. Schließlich platzt die unkonventionelle Journalistin auch noch in das biedere Leben des Sozialkämmerers Thomas, dessen spießbürgerliche Vorstadt-Ehe mit den unbeholfensten Mitteln der Karikatur gezeichnet ist. Der Roman begibt sich endgültig auf das Terrain von Nachmittag-Soaps.

Vor das Happy End mit Karrieresprung und Mutterglück hat der Herr zahlreiche Kapitel voller Selbstmitleid und billigem Mitternachtsblues gesetzt. Der ärgste Prüfstein für den leidensfähigen Leser sind die erotischen Passagen des Textes. In ihrem hungrigen Unterleib trägt Annika eben jenen Hochofen, in den sie ihren Ex-Verlobten stürzte. In der Glut ihrer Leidenschaft schmiedet sie das Begehren des kriselnden Stadtkämmerers Thomas: „Wieder sahen sie sich in die Augen, blickten in die grenzenlose Erregung des anderen und wurden ineinander gesogen, und plötzlich wurde er von einem Schwindel, einer totalen und kompromißlosen Ekstase erfaßt. Er schloß die Augen, legte den Kopf in den Nacken und schrie.“ Bei all dem ekstatischen, nackenstarren Geschrei sind große Frauenbrüste der einzige erotische Schlüsselreiz, den sich Marklund vorstellen kann.

Zwischen die drei Teile ihres Krimis setzt Marklund kursiv gedruckte Intermezzi, in denen sich die bosnische Exilantin in quälender Jesuitenkasuistik für ihre frühere Existenz als Präzisionskillerin rechtfertigt. Denn Marklund hat noch nicht genug Absurditäten zusammengedreht und braucht unbedingt noch eine weibliche bosnische Eliteschützin mit Kriegstrauma in ihrem Text. Diese Passagen bleiben erzähltechnisch unmotiviert, denn Aida stirbt schon in der Mitte des Romans. Die Sniperin feuert ihre geschwätzigen Gewissensentladungen aus einem narratologischen Hinterhalt. Durch dieses Murmeln aus dem Off weht der Hauch des Jenseits. Und das Jenseits raunt sehr knöchern und banal: „Ich bin ein Produkt meiner Lebensbedingungen und der Umstände.“

Am Ende des Romans bedankt sich Liza Marklund bei einem gewissen Jan Guillou, der ihr „bei Details über Waffen, Munition und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper geholfen hat.“ Herr Guillou hat ganze Arbeit geleistet. Sein Fachwissen stellt Marklunds Vorliebe für unappetitlich zugerichtete Körperpartien auf ein solides anatomisches Fundament: „Die Augen waren ihnen halb aus den Höhlen getreten, die Zungen hingen heraus, beide hatten eine kleine Markierung auf dem Kopf, und beiden fehlte ein Ohr und, wie gesagt, große Teile von Hinterkopf und Hals.“ Marklunds sonstige Bemühungen um das Hartgekochte im Krimi-Genre resümieren sich im verdammt inflationären Gebrauch des Wörtchens „verdammt“. Für die originelle und unverbrauchte Darstellung von Gefühlsregungen und Lebenskrisen standen der Autorin leider keine Fachleute zur Verfügung.

Die ersten Kapitel von Liza Marklund Roman nehmen den Leser noch durch die glaubwürdige Schilderung des Journalistenalltags und des linoleumgrauen Universums der staatlichen Hängeregister gefangen. Doch schon bald trägt es den Krimi aus der Kurve auf das holprige Terrain eines sentimentalen Kitschdramas. Dieses schwedische Kriminalprodukt versagt beim Elchtest.


Liza Marklund: Paradies. Roman, Aus dem Schwedischen von Paul Berf, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2002, 430 Seiten, XX,YY Euro