Stephan Maus

Johann Gottfried Seume: ‘Briefe’ (SZ)

Survival-Kit Theokrit - Ein Leben unter dem Zeichen des Vulkans: Johann Gottfried Seume in seinen Briefen (SZ, 07.02.03)

Johann Gottfried Seume (1763-1810) hatte Hummeln unterm Gehrock. Die Universität hält den Jüngling nicht lange. Er ist ein Ausreißer. Das Leben ist um so vieles interessanter als die Studierstube. Der Heißsporn liebt radikale Gesten und klare Schnitte. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen. Er flieht von der theologischen Fakultät Leipzig, will nach Metz auf die Artillerieschule. Doch das Militär kommt ihm schon entgegen: Er wird von hessischen Werbern aufgegriffen und in englischem Sold gegen die Aufständischen nach Amerika geschickt.

In den folgenden Jahre wird Seume desertieren, von den Preußen wieder aufgegriffen werden, verschleppt werden, sich freikaufen lassen, sich als russischer Soldat unter Katharina der Großen verpflichten und in polnische Gefangenschaft geraten. Mit Mühe und Not schafft er es, vier Jahre lang den Atem anzuhalten und als Korrektor und Lektor bei Georg Joachim Göschen, einem der wichtigsten Verleger seiner Zeit, zu arbeiten. Die „Sylbenstecherey“ raubt ihm den letzten Nerv. Klopstocks Fehler bringen ihn um den Verstand. Noch Jahre später fällt er in seitenlange Rage, wenn er an die metrischen Ungereimtheiten des Alten denkt. Gott, diese Versfüße! Seume kribbelt´s in den Füßen, er muß raus aus dieser Fron. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen.

Er packt seinen Tornister, greift sich einen wohl bezwingten Knotenstock und wandert vom sächsischen Grimma nach Sizilien. Knapp tausend Meilen zu Fuß, wer läßt sich schon gerne freiwillig in eine Kutsche sperren? „Ich will mir nur kosmisch das Zwerchfell etwas auseinander wandern.“ Zurück in Sachsen verfaßt er seinen Reisebericht in gut vier Monaten. Feilen und polieren war nicht sein Geschäft. Sein „Spaziergang nach Syrakus“ wird ein Klassiker der Reiseliteratur. Kein Posten fesselt den Vagabunden wirklich. Einen freieren Autor hätten sich selbst die Beatniks nicht ausdenken können. Er war der erste Rolling Stone: „Der liegende Stein wird moosig.“

Seume versucht, sich als Lehrkraft durchzuschlagen. Noch einmal macht er eine Reise, über Rußland in den Norden, Finnland, Dänemark, Schweden. Selbst als Schwerkranker macht er sich noch auf Reisen, läßt sich unter Schmerzen zu der Weimarer Prinzessin Caroline Louise kutschieren, läßt seine kranke Blase im Kutschkasten durchrütteln, „jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen“, nur um eine Pension für seine russischen Kriegsdienste zu erbitten. Der Brief, der von dieser letzten Fahrt durch die Landschaft seiner Jugend berichtet, ist sein ergreifendster. Seume stirbt auf einer Kurreise, in dem Badeort Teplitz, heute Teplice in Tschechien. Drei Tage nach seiner Todesmeldung erhält sein Freund Christoph Martin Wieland die Nachricht vom Erfolg des Gesuchs um eine Pension. Seume wurde nie „eingespießbürgert.“

Auf all seinen Lebensstationen hat Seume gelesen, gedichtet und „dem Teufel ein Ohr abgeschrieben“. Er hatte nicht nur Hummeln, sondern immer auch ein Taschenalmanach, ein philosophisches Vademecum und ein „Schmiralienbuch“ unterm Gehrock. In den Gefechtspausen las er Homer. Wurden in Leipzig seine Lieblingsbäume abgeholzt, empörte er sich in einem Gedicht. Sein Lebenstraum war es, auf dem Ätna Theokrit zu studieren; Theokrit war sein Survival-Kit. Zwischen Johann Gottfried Seume und das Leben paßte immer noch ein Blatt Papier. Der Mann war nicht banal. So jemandem schaut man gerne in die Karten.

Dank einer hervorragenden Ausgabe von Johann Gottfried Seumes Briefen kann man nun den vagabundierenden Dichter von seinem siebzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tode begleiten. Es ist ein sehr ergreifendes, spannendes und lehrreiches Leseabenteuer. Posthum können wir uns nun zu Seumes Weggenossen machen. Der Dichter war ein Rauhbein mit Talent für Männerfreundschaften. Für den Umgang mit Frauen fehlte ihm leider die Begabung. Mit dreiunddreißig zeigte er zum ersten Mal ordentlich Gefühl: „Apropos, ich bin zum erstenmal in meinem Leben ordentlicherweise verliebt.“ Er ist ratlos, das Gefühl ist ja auch zu sonderbar: „Ich weine wohl nicht, aber meine Augen brennen und eine hohe Glut fährt elektrisch durch meinen Nacken.“ Sobald er einen Briefbogen für die Dame seines Herzens unter dem elektrisierten Federkiel hatte, packte den sonst so Gefaßten die „Schwärmerey“, und er schwärzte und schwärmte Seite um Seite. Nach zwei, drei Briefen äußert er einen Kinderwunsch. Sein Leben lang hat er erfolgreich alle Frauen verschreckt. Aber wer hätte schon mit dem Unikum „tornistern“ wollen? Die Libido trieb ihn zu den erstaunlichsten Seltsamkeiten. Als seine Angebetete Christiana Wilhelmina Röder heiratete, schrieb er ihrem Ehemann einen Brief, in dem er dem Konkurrenten eine Gebrauchsanweisung für die Gattin mitgibt: „Sie hat Fehler: sie kann hassen, verzeiht nicht leicht, und ist leichtsinnig. Sie haben keinen leichten Gang mit ihr.“

In allen anderen Leidenschaften als der Liebe weiß sich Seume zu zügeln. Er ist Stoiker. Der Titel seines Hauptwerkes offenbart Seumes charakteristischsten Zug: Wer einen neunmonatigen Fußmarsch durch die wilden Räuberlandschaften des frühen neunzehnten Jahrhunderts einen Spaziergang nennt, legt Wert auf seine Gefaßtheit. Seume pflegt klassische soldatische Tugenden und unterstreicht gerne seine Mannesehre in seiner Korrespondenz. Er läßt niemanden darüber im Zweifel, daß er zwar ein Wilder, eine „huronische Haut“, trotz allem jedoch ein wackerer Kerl ist. Mit Erfolg: Seit zwei Jahrhunderten gilt Seume als Ehrenmann.

Seine Briefe zeigen Seume in all seinen Facetten: Als stolzen Bittsteller, unglücklichen Liebenden, glücklichen Wandersmann, dankbaren Begünstigten, genügsamen Einsiedel, mutigen politischen Pamphletisten und verläßlichen Freund, der selbst auf Wanderschaft nie das Interesse an den Zurückgebliebenen verliert: „Sind die Gurken gut geraten?“ Seume hat einen guten Blick für den ehrbaren Menschen. Er lobt selbst den Schumacher, der ihm seine Wanderungen ermöglicht. Sein Leben lang kämpft er gegen seinen tief verwurzelten „Murrsinn“. Der Mann weiß nichts mit sich anzufangen. Alles scheint ihm sinnlos. Ein hoffnungsloser Fall für das Jobaqtiv-Gesetz. Er steht immer kurz vor dem Konkurs seiner ICH-AG. In seinen jungen Jahren gelingt es ihm noch, gegen diese Melancholie anzugehen und sich zu gut gelaunten Albernheiten aufzuschwingen. In solchen Momenten kann er sehr komisch sein; doch häufig befällt ihn hier ein chronischer Reimzwang, der ihn Strophe um Strophe aus dem Stegreif knitteln läßt. Er nennt dies entschuldigend seine „Erbsünde“, und man mag sie ihm nur als Zeugnis einer wohlverdienten guten Laune verzeihen. Immer mehr wird ihm das Vagabundieren zur einzigen Medizin gegen ein sinnloses Leben. Wenn die Füße weit ausschreiten, dreht sich das Kopfkarussell wenigstens nicht ganz so wild.

Seumes Prosa ist berühmt für ihre schnörkellose Prägnanz mit Tendenz zur moralischen Maxime. Die militärische Sprache der knappen Rapports ist sein Stilvorbild. Einer seiner Lieblingssätze ist der Bericht des russischen Generals Suworow über die Einnahme von Prag: „Die Festung ist genommen, und ich bin darin.“ Leutnant Seume tornistert durch die Sprache. Sein Deutsch hat er an seinen antiken Klassikern geschult. Gegen Ende seines Lebens träumte er von einer großen staatsphilosophischen Abhandlung – auf Altgriechisch. Doch meist schreibt er gutes, knorriges, wohlbezwingtes Deutsch, das sich während einer Reifezeit von zweihundert Jahren in eine Fundgrube voller skurriler Wörter und amüsanter Redewendungen gewandelt hat. Seumes rauher, trotzig-stolzer Ton stärkt das Gemüt wie eine Wanderung durch Wind und Wetter nach einem deftigen Speckfrühstück. In seinen Briefen vibriert ein nicht zu bändigender Freiheitsdrang. Sogar die geliebte Literatur wird ihm zur Qual, wenn sie ihn ans Schreibpult fesselt. Am besten studiert sich noch auf dem Ätna. Seumes schönste Texte haben ihren Ursprung unter freiem Himmel.

Der kritische, fünfhundertseitige Kommentar dieser Briefausgabe ist nach allen Regeln der Kunst verfaßt. Schimmert durch Seumes Texte vor allem der Drang nach der Ferne, transportiert der ausgezeichnete kritische Apparat die Freuden und das Glück der genauen wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Das ist ganz im Geiste einer Zeit, in der selbst der Korrektor Seume noch eine ganze Briefseite über ein Komma verfaßte. Der Kommentar ist nicht nur so gründlich und informativ wie möglich, sondern liest sich auch wie ein historischer Roman in Fragmenten. Gärten erblühen, Drucktechniken werden erläutert und aus dem Dunkel der Zeit leuchtet der Knopf einer preußischen Uniform. Selbst Großaufnahmen vom Schlachtfeld werden geliefert: „Die Heilung der offenen, durchgehenden, mit Uniformfetzen und Knochensplittern verschmutzten Wunde war äußerst langwierig.“ Der Germanist als Reporter ohne Grenzen. Im Verbund mit Seumes Briefen lassen die Anmerkungen die Epoche der Spätaufklärung sehr plastisch wieder auferstehen. Das intellektuelle Leben und die Vernetzung der Gelehrten sind vorzüglich recherchiert. Die Herausgeber scheinen noch jeden Handarbeitslehrer im Sachsen der Aufklärung zu kennen. Selbst das Material von Seumes Tornister wird nicht verschwiegen: Der Ranzen war aus Seehundfell.

Dieser dritte Band von Johann Gottfried Seumes Werken sollte eine willkommene Gelegenheit sein, das literarische Gesamtwerk dieses originellen Freigeistes (wieder) zu entdecken. Die unter der Federführung des Bielefelder Germanisten Jörg Drews mit aller wissenschaftlichen Sorgfalt herausgegebenen gesammelten Werke Seumes liefern eine unglaubliche Materialfülle über den rastlosen Aufklärer. Aus den drei Bänden der nun vollständigen Gesamtausgabe steigt ein dreidimensionaler Johann Gottfried Seume mit Knotenstock und Seehundfelltornister. Bislang hat ihn noch kein Biograph zu fassen bekommen. Mit der Vollendung dieser Werkausgabe wäre der Moment gekommen. Die große kritische Biographie könnte pünktlich zum zweihundertjährigen Todestag des bewundernswerten Seume im Jahre 1810 erscheinen. Wer nimmt diesen Spaziergang in Angriff?


Johann Gottfried Seume: Briefe, Herausgegeben von Jörg Drews und Dirk Sangmeister unter Mitarbeit von Inge Stephan, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 1232 Seiten, XX,YY Euro