Eine Frau wie ein Fischsud. Hanns-Josef Ortheil köchelt aus italienischen Essenzen “Die große Liebe” (SZ, 06.10.03)
Ah, bella Italia: Adria, Averna und natürlich: Amore! Hanns-Josef Ortheil hat einen Triple-A-Roman geschrieben. Ein deutscher Fernsehredakteur recherchiert für einen Meeresdokumentarfilm an der italienischen Adria. Dem tumb-deutschen Durchschnittsurlauber sollen endlich einmal die Augen geöffnet werden für die mannigfaltige Schönheit seiner liebsten Badestrände: Qualle, Alge, Koralle. Dafür ist der Ästhet aus München genau der richtige Mann. Der feinsinnige Redakteur spricht Italienisch wie Trappatoni höchstselbst, schätzt eine Flasche kühlen Weißwein nicht weniger als eine Flasche erdigen Rotwein - Hauptsache Flasche voll - und verfügt über magische Sozialkompetenzen: innerhalb von nur wenigen Stunden liebt ihn das halbe Fischerstädtchen San Benedetto, vor allem aber Franca, die zauberhafte Direktorin des meeresbiologischen Instituts.
Der italophile Fernsehmensch und die schaumgeborene Institutsvenus werden zu Traumpaar eines kilometerlangen Küstenstreifens inklusive Hinterland: sie können sich stundenlang in die Augen schauen ohne zu gähnen, brillieren im Duett in der Sprache Eros Ramazottis, führen geistreiche Gespräche über Tiefseegarnelen und Fischsuppe und kommunizieren in entscheidenden Momenten über Kanal 32 der ätherischsten Telepathie. Wäre da nur nicht Gianni, der steife Meeresbiologe und Francas Verlobter. Der Redakteur braucht dreihundert Seiten und mehr als zwei Dutzend Osteria-Besuche auf Spesen, um die krabbenpulende Aphrodite aus Giannis Tentakeln in seine eigenen zu bugsieren. Dann Espresso und Happy End: Die Meeresbiologin kommt nach München, und nächstes Jahr macht dann sicher auch wieder der Bundeskanzler Urlaub in Italien.
Ortheils italienischer Romanstiefel ist ein Text über glückliche Regression. Ein gebildeter Mann kurz vor den bedrohlichen Vierzigern darf noch einmal eine Woche lang im handwarmen Meer der elementaren Leidenschaften planschen: intensiv fühlen, ungehemmt erotisieren und vor allem immer wieder gut essen und trinken. Ortheil erzählt von einem Hans im Glück auf Pauschalurlaub. Sein hydrophiles Traumpaar webt eine Bordüre aus schmucken Gefühlen an den Rand einer rundum abgesicherten Existenz. Sender und Institut zahlen. Diese psychische Regression geht einher mit einer formalen: Dieser Roman für die kultivierten Stände ist von provozierender Simplizität. Ortheils Geschichte über den Knall-auf-Fall-Redakteur gehorcht den dramaturgischen Kniffen des gehobenen Fernsehspiels. Der Hildesheimer Professor für Creative Writing beherrscht das konventionelle Erzählhandwerk aus dem Effeff. Mechanisch klappert das Erzählgerüst, man sieht Ortheils Handlungsskizzen durch den fadenscheinigen Text schimmern. Die vermeintlich so große Liebe wirkt gänzlich herbeikonstruiert und gehorcht nicht etwa dem vulkanischen Feuer der unberechenbaren Leidenschaft, sondern den klassischen Gesetzen der Dramaturgie. Ortheil will leichtes Proseccokribbeln erzeugen, klappert dabei aber allzu laut mit dem Handwerkskasten des deutschen Schreibseminarleiters. Die Liebe ist ein Hindernislauf, und der Autor ein gewissenhafter Platzwart, der in sturer Regelmäßigkeit vorhersehbare Barrieren über den Prosa-Parcours verteilt.
Exakt auf der Mitte des Romans kommt es zur ersten Kopulationsszene. Der Dekor ist eine Karikatur: Das Paar entblößt sich in einer windschiefen Umkleidekabine am einsamen Strand, draußen schwappt die Adria, drinnen knarrt das morsche Holz über der scharf kalkulierten Spannungskurve, der Atem fliegt, hörst du den Schrei der Möwe? Weil nun aber glücks- und weißweintrunkenes Kopulieren in selbst malerischsten Kulissen auch nicht abendfüllend ist, beschwört Ortheil regelmäßig ein dräuendes Gianni-Unglück herauf. Raunend droht der Rivale, alle Kellner warnen, der Institutspförtner wirft böse Blicke, aber es passiert nichts, alle Andeutungen erweisen sich nur als halbseidene Tricks, die Abenteuer von Hans im Glück und seiner italienischen Supersignora nicht allzu spannungslos zu gestalten.
Ortheil schmückt seine Liebesgeschichte mit gänzlich kindischen Details aus. Wie ein angeschwemmtes Versatzstück aus der phantastischen Literatur wirkt Francas bezaubernde Ähnlichkeit mit einem Magdalenenbildnis in einer lokalen Kirche. Auf der Schulter ihrer gemalten Doppelgängerin hockt sogar ein durstig Vögelein, das Sonnenstrahlen trinkt, und man fragt sich, ob es nicht dem überhitzten Hirnkasterl des Autors entflogen ist. Durch diese Ähnlichkeit der Meeresbiologin mit einem Jahrhunderte alten Gemälde wird die weibliche Hauptfigur symbolisch überhöht: Ortheil hat Franca als die Essenz eines italienischen Landstriches entworfen. Immer wieder findet das Paar Abbilder der Landschaft „in nuce“. Ein Fischsud ist das ganze Meer in nuce. Franca selbst ist ein Stück Italien in nuce.
Ortheils Konzentration auf die italienische Landschaft ist das einzig Erfreuliche in diesem biederen Liebesroman. Wohlwollende Leser mögen die überkonstruierte Liebesgeschichte als dramaturgischen Aufhänger für literarische Landschaftsmalerei verstehen. So läßt sich der Roman als exakt der Film begreifen, für den der Redakteur an der Adria recherchiert hat. Ist man bereit, die flachen Don-Juanerien des unwiderstehlichen Redakteurs einfach auszublenden, liest man ein präzises, lichtes Portrait einer Küstenlandschaft. Die fast schon essayistischen Erkundungen der Marken, jener Landschaft zwischen Adria-Strand und bergigem Hinterland, sind trotz Ortheils zuweilen recht penetrant aufgetragenem Averna- und Fischsuppen-Expertentums sehr lesenswert. Der Hildesheimer Schreibprofessor hat sich mit seinem Text schlichtweg im Genre vergriffen: Statt eines regressiven Liebesromans für die Toskana-Fraktion hätte er besser einen literarischen Reiseführer anvisieren sollen. Kurioserweise ist „Die große Liebe“ eine sehr kleine Liebesgeschichte, aber ein recht gelungenes Stück Landschaftsmalerei.
Hanns-Josef Ortheil: Die große Liebe. Roman, Luchterhand Literaturverlag, München 2003, 317 S., 22,50 Euro