Und ewig blutet der Affenbrotbaum - Roger Willemsen und die Liebe: “Kleine Lichter” (FR, 13.07.05)
Ach Gott, ja, Dings, die, äh, Bums, die Liebe. Bei Roger Willemsen ist Themenabend, und es geht nicht um die Moorfledermaus, sondern um die allseits beliebten, flauschigen Wollmäuse im menschlichen Gefühlshaushalt, das Auf und Ab der Liebe, die Fahrpläne, Starts und Landungen all der Flugzeuge in unserem Bauch, uh yeah, ich bau dir ein Schloß aus Sand.
Rashid ist ein feinsinniger Restaurator mit afghanischen Wurzeln, der in Wien lebt. Beziehungsweise eben nicht mehr lebt, denn er liegt im Wachkoma, in das er eines Tages einfach so gekippt ist, kein Wunder bei seiner labersüchtigen Geliebten. Die heißt Valerie, ist Galeristin in Tokio und liebt ihren komatösen Afghanen, daß es eine Freude ist. Beziehungsweise eben nicht, denn sie ist die plappernde Erzählerin in Willemsens unglücksseligem Buch. Weil die Liebe bekanntlich Berge versetzt, versucht Valerie, einen Kyber-Paß in Rashids petrifiziertes Bewußtsein zu schwätzen, durch den er sich wieder in die Gegenwart retten möge. Sie nimmt ihm ein Speicherplatz fressendes Liebesgeständnis auf, das ihm das Pflegepersonal vorspielen soll, während sie nach Tokio fliegt, um ihren Haushalt aufzulösen, bevor sie endgültig nach Wien zieht. Vielleicht wacht Rashid ja von der poetischen Kraft des Monologes auf. Willemsens Fehleinschätzung seines literarischen Zauberbanns ist beinahe rührend. Er glaubt allen Ernstes, er könne mit seinem hohlen Kulturfernseher-Gebrabbel eine spiegelverkehrte Scheherazade erschaffen, die mit ihrer Erzählung ihren Prinzen aus 1001 Komanächten erwecken könnte.
Willemsens Fabel ist also schon mal super. Aber warum das ganze pathetische Komakunsthistoriker-Theater, diese hanebüchen sentimentale Erweckungsfabel? Einzig, damit Willemsen abendfüllend über die Liebe, ihre Haupt- und Nebenwirkungen monologisieren kann. Der Fernsehmann kann den Moderator einfach nicht ablegen und hat sich einen Erzählrahmen zurechtgezimmert, der ihm erlaubt, genau das zu tun, womit er diese Republik schon seit Jahren hinters Licht führt: unkontrolliert daherschwadronieren und sich dabei den telegenen Anschein einer kultivierten Silberzunge verleihen. Amüsanterweise hat er den fiktiven Adressaten dieser Suada ins Koma versetzt, was tiefenpsychologisch recht aufschlußreich ist: Das Einzige, das Willemsen bei seinen konzeptlosen und blenderischen Ausführungen wohl immer gestört hat, war der Adressat seiner selbstverliebten Causerien. Deswegen hat er ihn in seinem Debütroman gleich auf der ersten Seite mundtot gemacht. Der dialogisierende Moderator hat sich zum monologisierenden Romancier gewandelt. Aber was heißt hier Romancier?
Die zentrale Frage des sogenannten Buches lautet: Rettet Liebe Leben? Eine wichtige Frage, die man natürlich am liebsten von Wolfgang Petry beantwortet haben möchte. Wie aber stellt sich Willemsen seiner Herausforderung? Mögen uns die zugeschalteten Zuschauer aus Österreich und der Schweiz ein bundesrepublikanisches Gleichnis erlauben: Immer wieder sieht man in unseren Freibädern drollige Frotteehandtücher, auf denen folgende Überschrift zu lesen ist: „Liebe ist …“ Dann folgen in einer Explosion von herumfliegenden Herzchen Weisheiten wie: „… ihm die Schwimmflügelchen aufzupusten“, „… ihm ein Senfbrötchen vom Büdchen neben den Duschen zu holen“ oder „… einen Komapatienten nicht gleich ins Springerbecken zu werfen.“ Willemsen hat seinen ersten Roman aus unzähligen solcher Frotteehandtücher zusammengelegt.
So liest man ein willkürliches Patchwork von semi-essayistischen Binsenweisheiten und Kalendersprüchen über Zärtlichkeit, Verstehen, Eifersucht und all den anderen beliebigen Psycho-Quatsch, den ein dull gewordener Redakteur gerade über Willemsens Teleprompter rauschen läßt. Der Ton dieses Gefühlsprotokolls an einen Abwesenden will beschwörend sein, ist aber nur einschläfernd. Willemsen läßt seine Erzählerin über Paartherapiejargon spotten, schreibt aber selber Sätze wie: „In Tokio wehrten wir uns gegen den Erstarrungsprozeß unserer Liebe.“ Der Leser aber wehrt sich gegen den Erstarrungsprozeß seines Bewußtseins. In seinen glänzendsten Momenten schwingt sich der Autor zu glitzerndem Eso-Pulp auf: „Deine Lippen schoben ihre Wärme vor sich her, dann setzten sie auf, mit der Aura zuerst.“ Aura an Tower, Aura an Tower: Bitte um Landegenehmigung. - Alles Roger, Sie können landen.
Willemsen hält sich für einen Aphoristiker in der Tradition französischer Moralisten und hat eine penetrante Vorliebe für gleisnerische Klugschwätzer-Formulierungen: „Kaum hat man einen Flecken gemeinsamen Boden betreten, berauscht man sich an den Konjunktiven des Zufalls.“ Man braucht solchen Pirelli-Liebeskalendersprüchen gar nicht lange nachzuspüren. Sie bedeuten schlicht nichts, klingen aber alle irgendwie sophisticated. Ungefähr so sophisticated wie das Geschwätz einer japanischen Galeristin, die einem Konzernvorstand irgendeine Videoinstallationsboulette ans sklerotische Knie schwatzen will. Insgesamt übersteigt der Erkenntnisgehalt dieses Textes nicht den der Psycho-Seite einer drittklassigen Frauenfernsehzeitschrift. Da hilft auch das bestens ausgebildete Romanpersonal nichts, das Willemsen aus der internationalen Kulturschickeria rekrutiert, was anderes kennt so ein Fernsehfuzzi ja nicht.
Es ist berauschend, wie desorganisiert dieser Text ist. 200 Seiten können so lang sein! Das einzige form- und dann auch gleich titelgebende Bild dieses verquasten Romans ist ein mystischer Lichtstrahl, der Valeries Auge erreicht, als sie im Flugzeug über Kasachstan gleitet. Was haben eigentlich gerade alle mit diesem Kasachstan? Jedenfalls liegt dort in der Steppe ein Splitter einer ollen Bierflasche, der einen Sonnenstrahl zu Valerie hinauf in die Business-Class schickt. Zu dieser kasachischen Epiphanie serviert die Stewardeß Champagner. Der Lichtstrahl zeigt Valerie, daß sie Rashid nun endgültig liebt. Warum, das weiß nur die kasachische Bierflasche. Genau dieses Bierpullenlicht blitzt nun auch ab und an in Rashids starren Komaaugen wieder auf. Diese kleinen kasachischen Lichter in den afghanischen Pupillen also sind es, die Valerie zu ihrer vollkommen strukturlosen Liebessuada anfeuern.
An dieser locker dahinschwadronierten Kulturkanal-Anmoderation zum Themenkonnex Liebe, Lust und Leberwurst überrascht vor allem, wie selten Willemsen sich in szenischem oder gar sinnlichem Schreiben versucht. Er simuliert Tiefgang, statt zu erzählen. Er hat die tautologisch klappernde Mühle am rauschenden Parlando-Bach angeworfen und produziert einen hölzernen Verhau abstrakter Gemeinplätze über die Liebe. Willemsen hat schon immer gern den Feingeist herausgekehrt. Nun gibt er auch noch das Sensibelchen und erteilt seiner femininen Seite das Wort. Weibliches Erzählen heißt bei ihm: fühlen, fühlen, fühlen, und immer an die Leserinnen denken, die bekanntlich 80% der Konsumenten belletristischer Literatur ausmachen.
Natürlich ist es unglaublich lässig, einen echten Roman im biographischen Portfolio zu haben. Aber gerechterweise ist es auch unglaublich schwierig, gute Prosa zu schreiben. Nichts für kleine Flimmerkistenlichter. Am fadenscheinigsten ist Willemsens dreiste Behauptung, über die Liebe könne man nur in altbackenem Ton schreiben: „Das heißt, die Liebe kann ich dir nicht erklären, nur meine. Ich erkläre sie dir in alten Vokabeln. Es geht nicht anders: Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.“ So kann man es sich natürlich sehr einfach machen mit seinen altmodischen Liebessophismen.
Vielleicht hat Willemsen kurz die Idee gestreift, einen Text über das Absinken einer desillusionierten, gebildeten Frau in die Gefilde des Kitsches zu schreiben. Das hätte eine interessante Erkundung zum Thema Ironie, Gefühl und Kitsch werden können. Aber Willemsen ist dieser Idee nicht nachgegangen, und so ist sein Roman einfach indiskutabler Kitsch geworden. Nur hin und wieder überkommt Willemsen das schlechte Gewissen. Dann reckt er sein Köpfchen aus der pathetischen Suada und murmelt: „Und in diesen ganzen Schwulst hinein höre ich dich noch mit meiner Stimme sagen: ‚Aber Valerie, hast du denn gar keine Angst, daß uns genau diese Worte über die Gefühle hinaustreiben könnten?’“
Ah Valerie, die Worte, das Meer der Gefühle, die verheißende Stille des Wachkomas. Willemsens Metaphern, Bilder und Vergleiche sind allesamt so abgegriffen und willkürlich wie seine pathetische Fabel und seine zahllosen nichtssagenden Aphorismen. Mit sicherem Gespür spinnt Willemsen die schauerlichsten Metaphern gleich über mehrere Zeilen weiter: „Als ich in Tokio im Garten des Tenno diesen Affenbrotbaum sah, mit einer Krone, die sich wie ein Patronat über den Stamm senkte, habe ich uns in die Ewigkeit der Rinde geritzt. Stark sind wir jetzt, wie die Narbe dieses alten Baumes, der für uns bluten mußte.“
Ob Rashid wieder in die summsende Welt der gefühlsstarken Galeristinnen im Faselfuror und der blutenden Affenbrotbäume zurückkehrt, erfahren wir nicht. Aber es ist mehr als wahrscheinlich, daß sich der weise Afghane nie wieder rühren wird. Denn Valeries bräsig vor sich hinwackelnde Liebessülze ist nur im Koma zu ertragen.
Roger Willemsen: Kleine Lichter. Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M., 200 Seiten, 14,90 Euro