Die Schreibmaschine des Paten: Wie sich der Capo di tutti Capi Bernardo Provenzano als Autor inszenierte (SZ, 15.04.2006)
Mafiosi sind nicht nur Brutalos, sondern auch hoffnungslos pathetische Romantiker. Sie verwenden ebenso viel Konzentration auf den nächsten Territorialkrieg wie auf die sorgfältige Pflege ihrer mythischen Aura, hinter der im kollektiven Bewußtsein oftmals ihre Brutalität zu verschwinden droht. Niemand verbrämt rohe Gewalt so erfolgreich mit pittoresken Inszenierungen wie der Mafioso. Lange vor Francis Ford Coppola waren die Mafiosi ihre eigenen Regisseure, Maskenbildner und Ausstatter. Auch der soeben gefaßte oberste Mafioso Bernardo Provenzano blieb der langen Mafiatradition der mythischen Selbstinszenierung treu. Sein Mythos wird auf ewig mit einer Olivetti Lettera 32 verbunden bleiben.
Aus Sicherheitsgründen benutzte der meistgesuchte Mann Italiens weder Handys, Fax noch Internet. Statt dessen kommunizierte er über kodierte Zettelchen, die er auf einer unverwüstlichen Reiseschreibmaschine aus Aluminium tippte. Hunderte dieser „biglietti“ hat die Polizei im Laufe der 43 Jahre seiner Schattenexistenz aus toten Briefkästen, Olivenbaumritzen und Steinspalten gefischt. Von der Liebesnachricht an seine Frau, die erste Jugendliebe des Romantikers, bis hin zu den Marschbefehlen an seine Untergebenen. In der Tasche seines ältesten Sohnes wurden im April 2002 Briefe eines besorgten Vaters an seine Kinder entdeckt. Nachts muß Provenzano irgendwo im sizilianischen Maquis gesessen haben, unabhängig von Strom und Betriebssystemabstürzen, und sein unheilvolles Klappern in die lauen Nächte hinausgeschickt haben. Warum sind die Anti-Mafia-Spezialeinheiten nicht einfach diesem Klappern nachgegangen?
43 Jahre lang war Provenzano auf der Flucht. Seine Olivetti muß inzwischen um die vierzig Jahre alt sein. Der 73-Jährige hat sein gute Stück ungefähr im Alter von dreißig Jahren gekauft oder erbeutet. Im Metallskelett der Olivetti haust seine Jugend. Lange Zeit war die Olivetti Lettera 32 ein legendäres Schreibgerät von Journalisten und Schriftstellern. Man fand sie im Dschungel von Vietnam, in Biafra oder eben in einem abgedunkelten Steinhaus in Sizilien.
Zuerst muß Provenzano seine Olivetti aus reinen Sicherheitsgründen benutzt haben - aber selbst das ist nicht wirklich sicher: die mythische Kraft einer Olivetti ist stärker als ein Mafioso. Doch bald schon wurde die Schreibmaschine zum Sicherheitsrisiko. Kaum hatten die Carabinieri Provenzanos Olivetti identifiziert, garantierte die Schreibmaschine dem Mafioso nicht mehr Anonymität, sondern hob ihn besonders effektvoll aus ihr heraus. Im Laufe der Jahre konnten die Carabinieri an den abgefangenen Botschaften erkennen, daß die Farbbänder der Schreibmaschine, die Provenzano einmal in großen Mengen erworben haben mußte, mit der Zeit langsam austrockneten. In den letzten Jahren waren die Buchstaben kaum noch lesbar. Trotzdem blieb die Olivetti immer Provenzanos Handschrift.
Bernardo Provenzano war ein ungebildeter Mann. Wegen seiner Brutalität wurde er „u trattori“, der Traktor, genannt. Man entlieh seinen Nom de Guerre einem mechanischen Apparat. Und einen mechanischen Apparat sollte er benutzen, um sich zum Gelehrten zu stilisieren. Provenzano, der einst nur zwei Grundschuljahre absolviert hatte, bildete sich mit Büchern und seiner alten Olivetti weiter. Vor einigen Jahren soll er von seinen Männern verlangt haben, ihn fortan nicht mehr „u trattori“, sondern „professore“ zu nennen. Das grobmechanische Landgerät wurde durch die feinmechanische Schreibmaschine in eine höhere Sphäre gehoben. In die Sphäre der Schriftgelehrten.
Der oberste Mafioso entwickelte sich zum formbewußten Autor mit Sendungsbewußtsein. Seine „biglietti“ waren mit Bibelsprüchen gespickt. Er war sehr gläubig und überaus höflich. Einem Untergebenen schrieb er: „Mein Lieber, möge Dich diese Nachricht in bester Gesundheit antreffen. Wie ich Dir versichern kann, geht es mir gut. Entschuldige, wenn ich Dich mit dieser Bitte belästige, aber wie Du weißt, versuche ich nur, zu Diensten zu sein.“
Ein Mann, der vierzig Jahre lang formbewußte, kodierte, erbauliche und unwiderrufliche Orakelsprüche auf seiner Olivetti formuliert und in die Welt hinaussendet, kann sich nur als Autor begreifen. Und wie alle, die sich vor allem als Schreibende definieren, verehrte der Capo di tutti Capi sein Schreibwerkzeug wie einen Fetisch, der seine Potenz verkörperte. Er muß davon überzeugt gewesen sein, daß er all seine Macht eingebüßt hätte, wenn er jemals seine Olivetti ausgetauscht hätte.
Der Schreibbänder hortende Mafioso befindet sich mit seiner kultisch verehrten Olivetti in bester Gesellschaft. So hamstert Günter Grass gleich mehrere Olivettis, allerdings ein etwas kleineres Kaliber als das des Mafioso. Grass besitzt vier Olivetti Lettera 22, ein Modell, das schon Erich Kästner überzeugte. In einem Interview über seine Schreibgewohnheiten sagte Grass: „Meine erste Fassung schreibe ich in ein leeres Buch. Viele dieser Manuskriptfassungen sind von Zeichnungen durchsetzt. Der Schreibprozeß soll die nächste Szene zunächst skizzenhaft deutlich machen. Die zweite Fassung tippe ich dann in meine alte Olivetti – von der hab ich an meinen verschiedenen Arbeitsplätzen vier Stück in Reserve.“ In einem Gedicht schreibt er: „Meine alte Olivetti / ist Zeuge, wie ich fleißig lüge / und von Fassung zu Fassung der Wahrheit / um einen Tippfehler näher bin.“
Auch Wolfgang Koeppen schwor auf seine Olivetti: „Ich habe mich so an die Maschine gewöhnt, daß ich mit der Hand überhaupt nichts mehr schreiben kann. Die Maschine diszipliniert meine Arbeit und gibt dem Satz von Anfang an Klarheit.“ In Nicholson Bakers Roman „Eine Schachtel Streichhölzer“ wird die Olivetti als forderndes, aber willkommenes Geschenk des Vaters beschrieben. Die Maschine verkörpert immer auch die übergeordneten Institutionen, die mit dem vielfingrigen Tribut des Individuums gespeist werden wollen. Das geschieht mit einer Mischung aus Freude und Pflichtbewußtsein. So tippt der ehemalige Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, mit Nostalgie ein großes „B“ statt eines „ß“ auf seiner Schweizer Olivetti, die kein Eszett aufweist.
In seinen frühen Jahren baute auch Stephen King auf die düstere Magie seines Olivetti-Totems, wenn er nach seinem Job als Englischlehrer in seinen Trailer torkelte: „Ich kam erschöpft von der Schule heim und zwängte mich in den Heizraum des Wohnwagens, wo ich Tabbys kleine tragbare Olivetti auf einen Kindertisch stellte, den ich auf den Knien balancieren mußte, und dort versuchte ich dann, funkelnde Prosa zu tippen. Dort habe ich übrigens ‚Brennen muß Salem!’ geschrieben“, vertraute er dem Playboy an.
Wie eine Mahnung an den Autor steht der fordernde Olivetti-Monolith auf dem Schreibtisch. Die Maschine macht noch den einfachsten Mann zum Autor, der nach Wortgold gräbt. Im „Schatz der Sierra Madre“ gehen Humphrey Bogart und Walter Huston auf Goldsuche. In ihrem Handgepäck: Eine schwarze Reiseschreibmaschine. Auf einem Foto beugt sich Hemingway barbrüstig in Finca Vigia auf Kuba über seine Schreibmaschine, ein omnipotenter Priester und seine kultische Paraphernalie.
Maxim Biller erinnert sich an seine Anfänge als Autor: „Ich habe schon relativ früh, mit 13 Jahren, einmal angefangen, eine Geschichte zu schreiben, habe sie aber nie zu Ende geschrieben. Das hing vielleicht damit zusammen, daß mir mein Vater, als ich 13 war, eine wunderschöne Olivetti Praxis 48, eine elektrische Schreibmaschine, geschenkt hat, die bis heute noch wegen des tollen Designs so wunderschön ist, und ich wollte einfach nur darauf schreiben, weil sie gerade da war. Ich habe ein bißchen was geschrieben.“ Wieder der Vater, wieder der Appell der Maschine.
Die für ihren sanften Anschlag berühmte, gut 6 Kilo schwere mythische Olivetti mit ihren schlanken Pica-Typen wurde für den Brutalo Provenzano zum Instrument seiner scheinbaren Zivilisierung. Der Fetisch verlieh dem Mafioso Professionalität. Im getippten Text verliert das Manuskript alles Persönliche. Es wird endgültig und unwiderruflich. Die Handschrift verschwindet hinter institutionellen Typen. Provenzano hat maßgeblich am Übergang der bäuerlich wildwüchsigen sizilianischen Mafia zu einem institutionalisierten Kraken des internationalen Verbrechens mitgewirkt. Mit den Biglietti aus seiner Olivetti hat der Provinzler versucht, der Mafia die Aura eines internationalen Apparates zu verleihen. Er hat die Beretta gegen die Olivetti eingetauscht. Andere Killer tragen Geigenkoffer, Provenzano trug den Koffer eines Design-Klassikers aus Aluminium.
Der Medienarchäologe Friedrich Kittler hat die Rolle der Waffenindustrie für den Fortschritt in den modernen Aufschreibesystemen untersucht: Die erste Schreibmaschine wurde vom Rüstungsfabrikanten Remington produziert. Kittler sieht in der Schreibmaschine ein Diskursmaschinengewehr. Wenn der lettristische Mafioso Provenzano beim Verfassen seiner tödlichen Biglietti zu fest in sein Diskursmaschinengewehr tippte, riß die Metallklaue der Pica-Type beim Wort „Morte“ ein kleines Loch ins Papier, dessen leicht ausgefranstes Rund das Loch im Schädel des nächsten Opfers vorwegnahm. Und blutrot leuchtete die Tabulatorentaste seiner Olivetti Lettera 32.