Größenwahnsinniger Soziopath! Herrschsüchtiger Egozentriker! Frauenhungriger Monoman mit Allmachtsphantasien! Das ungefähr ist die Diagnose, die man dem Wikileaks-Gründer Julian Asssange aus der Ferne angedeihen lässt, seit er geheime diplomatische Dokumente der USA veröffentlichen ließ. Vielleicht stimmt diese Küchenpsychologie, mit der sich die etablierten Medien an Assange abarbeiten, als wollten sie Rache dafür üben, dass er ihnen mit seiner Enthüllungsplattform den Schneid abgekauft hat. Vielleicht ist sie aber einfach auch nur grober Unsinn.
Eines jedenfalls sicher: Es ist vollkommen zweitrangig, was für ein Bursche Assange ist. Es sollte uns um die Idee gehen, die er mit Wikileaks verfolgt. Die Idee von absoluter Transparenz in Politik und Wirtschaft. Wer hier ein Geheimnis kennt, darf es auf Wikileaks verraten. Denn Geheimnisse sind der Feind einer offenen Gesellschaft. Eine einfache und eine gute Idee. Wohlgemerkt: Es ging Julian Assange niemals um die Verletzung der persönlichen Privatsphäre. Diese Idee wäre eine schlechte Idee. Aber schließlich hat Assange Wikileaks gegründet, nicht die „Bunte“ oder „BILD“.
Verletzung der Privatsphäre gibt es in der Wikileaks-Affäre natürlich auch. Allerdings von Seiten der klassischen Medien, die Julian Assange als einen James-Bond-Fiesling zeichnen und genüsslich alle saftigen Details seines Privatlebens ausbreiten. Porno und Voyeurismus verkaufen immer besser als eine Auseinandersetzung mit radikalen Ideen. Auf Wikileaks jedenfalls hätten solch schmierigen Dokumente niemals eine Chance auf Veröffentlichung.
Bei all dem diffamierenden Geschrei um Assange sollte man sich vielleicht vergegenwärtigen, dass es erst einmal vollkommen unerheblich ist, ob eine gute Idee von einem Heiligen oder einem Dreckskerl verkörpert wird. Ja, man könnte sogar der Meinung sein, dass eine gute Idee manchmal einfach einen Dreckskerl oder eine Schlampe braucht, um überhaupt in unsere schmuddelige Welt zu gelangen. Vor allem, wenn man diese Idee gegen den mächtigsten Staat der Welt durchsetzen möchte. Ein grüblerischer Feingeist hätte Hölderlins annotierte Tagebücher auf Wikileaks veröffentlicht, nicht die diplomatischen Depeschen der USA.
Lesen Sie den vollständigen Text im “stern” vom 30.12.2010 (Heft 1, 2011)