Weltoffen, liberal, tolerant - so sehen wir uns gern. Aber sind wir es auch? Eine Introspektion
Wenn ich Wahl-O-Mat mache, geht das so aus: 1. Die Linke. 2. Piraten 3. Grüne. Ich wähle dann meist SPD. Zu viel Revolution ist mir unheimlich. Meine Rentenlücke ist schon groß genug. Bei der 1.-Mai-Randale in Kreuzberg sitze ich sympathisierend im Straßencafé, denn so kann’s ja nicht weitergehen mit Kapitalismus, Konsumterror und globaler Ungerechtigkeit.
Nach dem dritten Latte macchiato schaue ich mir dann gern noch Schaufenster mit schönen Fahrrädern an, puristische Stahlrahmen, feinste Nabenschaltung, alles für 3000 Euro, Weinflaschenhalterung unter der Mittelstange inklusive. Und im Geiste verplane ich dafür das nächste Urlaubsgeld. Dann müssen Frau und Tochter eben zu Hause auf dem Balkon „Mensch ärgere dich nicht“ spielen, während ich Radtouren im Alten Land mache.
Wenn ich in fremden Städten an nasskalten Herbstabenden ein Bier in einer Kneipe trinke, nehme ich gern mein Notizbüchlein zur Hand und formuliere an meiner Selbstbeschreibung für Online- Partnerbörsen. Kann ja sein, dass einen die äußeren Lebensumstände eines Tages zwingen, sich dort unverbindlich einzuloggen. Und dann sollte man auch vorbereitet sein. Außerdem ist ja nichts dabei. Immer noch besser, als der Frau die Strickzeitschrift zu klauen und heimlich auf dem Klo den Psychotest zu machen.
Da sitze ich dann hinter Häkelgardinen, und während draußen der Wind miniermottenzerfressene Kastanienblätter vor sich hertreibt, spüre ich ein warmes Kribbeln im Unterbauch, während ich notiere: “Weltoffen, liberal, tolerant, allem Neuen gegenüber aufgeschlossen.”
Liberalität scheint mir noch das beste Korsett, das man dem chaotisch flutenden Ozean widersprüchlicher menschlicher Begierden überstülpen kann. Liberal und weltoffen: Das ist der Komponist und Dandy Hans Werner Henze, der Rudi Dutschke in seiner italienischen Villa Unterschlupf gewährt. Das ist George Clooney, der eine Menschenrechtsanwältin heiratet und keine Wallstreet-Bitch. Liberalität ist sexy. Sie trägt das Gesicht von Caren Miosga. Das Gegenteil von Liberalität sieht aus wie Eva Herman. Wer in Deutschland nicht liberal ist, wird niemals eine Altbauwohnung mit Balkon bekommen, sondern muss auf ewig seine Filzpantoffeln im Flur seines Reihenendhauses abstellen.