Stephan Maus

Was ist Lyrik?

Lyrik is in the Air. Doch die meisten stehen diesem bereichernden Lifestyle ziemlich hilflos gegenüber. Eine Einführung

Erste Orientierung verschafft das Erscheinungsbild des Künstlers. Erstaunlich zuverlässig lässt sich vom Äußeren des Dichters auf sein Werk schließen. William Carlos Williams zum Beispiel ging gern in Gummistiefeln dem Milchmann entgegen. So sind auch seine Verse: wasserdicht und radikal milchorientiert.

Rentenvorsorge war immer großes Lyrik-Thema. Von Ovid bis Sarah Kirsch. Wenn ein Text von Indexfonds und den Chancen von Warenterminbörsen spricht, handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um Lyrik. Hermann Broch stand dieser Art von Lyrik allerdings kritisch gegenüber.

Natürlich handelt Lyrik auch oft und gern von Sprache. Man denke nur an die Werke von Ossip Mandelstam, die ohne Sprache nur schwer vorstellbar wären.

Sappho hingegen war pure Reichweitenfetischistin. Sprache war ihr quasi egal. Sie setzte voll auf Sex. Heute hätte sie einen eigenen Youporn-Kanal. Auch schön.

Die Zeit von 1678 bis 1879 war sehr schlecht für die Lyrik. Alle Gedichte aus dieser Epoche kann man praktisch in der Pfeife rauchen. Bullshit-Bingo mit Endreim.

Dann kam Baudelaire, der Sascha Lobo der Dichtkunst. Nur, dass sein Irokese grün war. Leider hatte Baudelaire ein Problem mit der renommierten Sonnettform - fatal für eine Karriere als Profi-Verseschmied.

Doch der französische Dandy überwand sein Manko mit totaler Selbstdisziplin und formvollendetem Fitnesswahn. So erfand er den Grünkohl-Smoothie.

Es ist nicht ganz gerecht, wenn wir solch prophetisches Trendgespür vom heutigen Lyriker erwarten. Denn es sind solche bernsteinfarbenen, falben Erwartungshaltungen, die die heutige Lyrik in die Rezeptionskrise stürzen.