Stephan Maus

DIGITAL ANTHROPOLOGY: Meine lange Reise zu Debian/GNU Linux

“To be a saint in the Church of Emacs does not require celibacy, but it does require making a commitment to living a life of moral purity. You must exorcise any evil proprietary operating system that has posessed any of the computers under your control. And then you have to install a holy free operating system. And only install free software on top of that. If you make this commitment and live by it, then you too will be a saint in the Church of Emacs, and you too may have a halo.” (Richard Stallman)

Meinen ersten Computer kaufte ich 1992, um darauf meine Magisterarbeit zu schreiben. Es war ein Windows-Tower, eine große graue Kiste. Und laut: Der Lüfter schleifte im Gehäuse. Der Rechner stand in einem abgedunkelten Arbeitszimmer in einer Dachgeschosswohnung im südfranzösischen Aix-en-Provence. Hier war es immer heiss.

Der scharrende Lüfter lief ununterbrochen. Es war schwer, sich zu konzentrieren. Aber ich dachte damals, dieser Lärm sei das normale Betriebsgeräusch. Hin und wieder schauten Freunde von der benachbarten Kunsthochschule vorbei, allesamt Apple-Fans. Sie spotteten über die große, graue, lärmende Kiste.

Dateigestrüpp

Wahrscheinlich lief auf dem Rechner Windows 3.1. Ich erinnere mich allerdings nicht mehr an irgendeine grafische Benutzeroberfläche, sondern nur noch an einen orangefarbenen Kommando-Prompt, der auf schwarzem Grund blinkte. Mein Dokument habe ich wohl mit Word erstellt. Wahrscheinlich Version 6. Aber auch hier erinnere ich mich an keine grafische Oberfläche.

Ich habe eher das Gefühl, ich hätte mich durch undurchdringliches Dateigestrüpp zu meinem Dokument hangeln müssen. Heute kommt es mir vor, als hätte ich damals meinen Text einfach in ein Terminal geschrieben.1 Daten wurden auf Floppy-Discs gespeichert. Eines steht fest: Beim Kauf hatte ich mich schwer über den Tisch ziehen lassen.

Als die Magisterarbeit fertig war, druckte ich sie mit einem schmutzig-weissen Nadeldrucker aus. Der machte noch einmal doppelt so viel Lärm wie der Lüfter des Rechners. Ich durchtrennte die einzelnen Seiten des Endlospapiers, brachte die an den Rändern ausgefranste Arbeit zum Copy-Shop und befasste mich nie wieder mit der scharrenden, grauen Kiste. Bei irgendeinem Umzug ging sie im Meer der Zeit unter. Jetzt leuchtet sie noch ein letztes Mal auf, bevor sie gleich auf ewig verschwindet.

Kaufen als symbolischer Akt

1995 lebte ich in Paris und beschloss, Schriftsteller zu werden. Technik dient nach meiner Erfahrung meist nur dazu, einen Lebensentwurf symbolisch zu untermauern. Also besiegelte ich meine Schicksalswende mit dem Erwerb eines Apple-Desktops im Medienkaufhaus FNAC an der Place de la Bastille.

Es war ein Macintosh Performa 400. Im Gegensatz zu anderen Modellen wurde die gesamte Performa-Serie nicht exklusiv über Apple-Händler vertrieben, sondern über große Kaufhausketten. Apple wollte den Massenmarkt erobern. Die Serie umfasste insgesamt 64 Modelle und war ein Flop. Apple geriet in finanzielle Turbulenzen, und Steve Jobs kehrte an die Unternehmensspitze zurück.

Auf dem Problem-Mac schrieb ich meine ersten Texte. Nie machte ich etwas anderes mit dem Computer. Die Maschine an sich interessierte mich nicht. An den Bildschirmrand klebte ich eine Postkarte, die den Dichter Arthur Rimbaud zeigte.

Irgendwann einmal übernachtete irgendein Taugenichts in meiner Wohnung, der an dem Computer irgendeinen Artikel schrieb, ohne mich vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Zu Strafe nannte ich ihn “Du Journalist!” Daraufhin schalt er mich “Du Schriftsteller!” Der Rechner jedenfalls war für mich von da an unwiderbringlich beschmutzt.

Das Berlin der 90er war Windows 98

1999 lebte ich in Berlin und kaufte mir einen Tower mit vorinstalliertem Windows 98. Vielleicht schien mir das nüchterne, sperrige Windows besser zum Berlin der Nachwendezeit zu passen als das stromlinienförmig designte Apple. Das Berlin der 90er war Windows 98, das heutige Berlin ist iPhone.

Den Tower bezahlte ich mit einem Teil des Vorschusses für meinen ersten Roman. So bekräftigte ich noch einmal symbolisch mein neues Dasein als frisch veröffentlichter Autor. Immer, wenn ich mich an die Maschine setzte, sagte sie mir: “Du hast mich erschrieben. Du bist nun Autor.” Der Tower war mein Totem, vor dem ich meine Kunst zelebrierte. Vielleicht war er eine Wiedergeburt meines ersten Desktops. Mein Leben war jetzt nicht mehr scharrend und knarzend, sondern lief in geschmeidig surrender Bahn. Dieser Tower war mein erster Computer mit Internetanschluss. Zwitschernd wählte sich das Modem ein und verband mich mit der Welt.

Zusammen mit dem Rechner hatte ich mir ein dickes Buch über Windows 98 gekauft, das ich ausgiebig studierte. Der Windows-Tower war der erste Computer, den ich beherrschte. Zum ersten Mal wusste ich, was ich tue. Zumindest, bis er seinen Dienst versagte.

Das Trauma des PC-Doktors

Das zwitschernde Modem musste uns im Netz irgendeinen Virus eingefangen haben. Es wollte mir nicht gelingen, den Computer davon zu säubern. Also rief ich einen Mann an, der sich “PC-Doktor” nannte. Die Zeit, die ich mit diesem IT-Experten vor meinem infizierten Rechner verbrachte, war derart traumatisch, dass ich beschloss, den Computer endlich wirklich zu verstehen. Zuvor hatte ich das Usenet entdeckt und dort immer wieder von Linux und anderen Unix-Derivaten gelesen. Also begann ich, mich mit anderen Betriebssystemen zu befassen.

Mit Hilfe einer Knoppix-Live-CD installierte ich Linux im Dualboot neben dem existierenden Windows 98 auf dem Tower. Ausserdem ersteigerte ich ein gebrauchtes Thinkpad und installierte darauf in wochenlanger Kleinarbeit NetBSD. Das Thinkpad nutzte ich später vor allem als CD-Player. Ich fand es herrlich, mir in meiner Küche von dem exotischen NetBSD alte Jazz-CDs vorspielen zu lassen.

Ich war in dieser Zeit so enthusiastisch, dass ich für die “Süddeutsche Zeitung” einen euphorischen Essai über Open Source schrieb: Veitstanz der ikonoklastischen Teufel auf dem Gerätepark.

Die Computerbastelei war ein willkommener Ausgleich zum literarischen Schreiben. Kein Mensch weiss, ob ein fiktiver Text gut ist. Eine gelungene Linux-Installation hingegen gibt einem immer wieder das befriedigende Gefühl, etwas Hochkomplexes zu kontrollieren. Das ist das Erfolgsgeheimnis eines jeden Hobbykellers. In ihm scheint die Welt beherrschbar.

Der Monolith sagte: “Ich bin aus einem Guss”

2006 bot man mir einen Job beim “stern” an. Seitdem stellt man mir dort immer irgendein MacBook zur Verfügung. Im Angestelltenleben blieb mir nur wenig Zeit für Computer-Bastelei. Und leider fiel es mir immer noch schwer, mich flüssig in einem Linux-System zu bewegen. Immer wieder vergass ich Befehle. Und warum musste man eigentlich jedes verdammte Laufwerk immer erst von Hand einbinden? Das war doch alles sehr umständlich.

Also kaufte ich 2008 als Heimcomputer ein MacBook, das aus einem massiven Aluminiumblock gefräst war. Der Monolith faszinierte mich. Er sagte: “Ich bin aus einem Guss”. Hier griff alles perfekt ineinander. Die Hardware wollte perfektes Abbild der Software sein: Es gab kein Spaltmaß. Denn es gab keinen Spalt. Und Laufwerke musste man hier auch nicht von Hand einbinden. Dieser Alu-Monolith war glatt und schick und passte irgendwie zum neuen Leben im feinen Hamburg.

Jeder in der Familie liebte das Gerät. Apple war damals noch nicht so abstoßend wie heute. Es war damals noch nicht vollkommen verkapselt. IPhone, iPod und iPad gab es noch nicht. Apple war noch nicht der Walled Garden, der schon aus 500 Kilometern Entfernung nur noch nach Profitmaximierung und Nutzerversklavung riecht.

2010 kaufte ich mir einen “Asus Eee PC 1005 HA” mit vorinstalliertem Ubuntu. Ich redete mir ein, ich bräuchte das Gerät als Reiseschreibmaschine. Wie praktisch musste es sein, immer dieses seemuschelförmige Netbook dabei zu haben! Doch wie jeder Gerätekauf war auch dieser nichts als ein symbolisches Statement. Für 300 Euro stillte ich mit dem kleinen Netbook meine Sehnsucht nach Linux. Heute läuft es als Spotify-Server.

2017 machte der Apple-Monolith langsam schlapp. Er wurde immer träger. Ich machte ein Update, und plötzlich lief iPhoto micht mehr. Es war mit OS X Yosemite 10.10.3 einfach eingestellt worden. Auf meiner Festplatte befanden sich über 50.000 Fotos, fein säuberlich sortiert mit Hilfe von iPhoto-Tags. Und Apple fiel nichts Besseres ein, als die Software einfach einzustellen. Es wollte mir nicht gelingen, die Tags in die neue Foto-App zu importieren.

Maschinenstürmerische Wut

Wirkliche Mühe wollte ich mir auch nicht geben. Zum zweiten Mal in meinem Leben wurde ich von maschinenstürmerischer Wut ergriffen. Ich schwor mir, mich nie wieder von proprietären Systemen anbhängig zu machen. Ich wollte ein Betriebssystem und Anwendungen, die elegant und stabil waren. Auf die ich mich Jahrzehnte lang verlassen konnte. Dafür war ich auch bereit zu lernen.

Denn wer wirklich viel mit Computern arbeitet, wird irgendwann sowieso versuchen müssen, sie zu verstehen. Es sei denn, er engagiert eine eigene IT-Abteilung. Und statt seine Zeit damit zu verschwenden, irgendwelchen unwürdigen, merkantilen Mist zu studieren, kann man auch gleich etwas Vernünftiges lernen.

Ich entschied mich für Debian, eine altehrwürdige Linux-Distribution, die Wert auf Stabilität legt und das Prinzip von Freier Software einigermaßen treu umsetzt. Freie Software muss nicht unbedingt kostenlose Software bedeuten. Jedes Jahr spende ich 100 Euro an Debian. Ich glaube, das ist ok.

Debian ist ein vollständiges Betriebssystem mit sauber gepflegten Softwarepaketen, die jedem Bedürfnis gerecht werden. Die Distribution wird von etwa 1000 freiwilligen Entwicklern gepflegt. Ihre Arbeit wird über Mailinglisten koordiniert. Debian ist nicht nur ein ausgereiftes Betriebssystem mitsamt allen erdenklichen Nutzer-Anwendungen, sondern schlicht eine Meisterwerk an kollektivem Wissensmanagement.

2018 kaufte ich mir ein Thinkpad E 470 und installierte darauf Debian. Seitdem funktioniert es tadellos.

Bibliothek der Klassiker

Manchmal nutze ich aus alter Gewohnheit noch aufgeblasene, schwerfällige Programm-Brocken wie Thunderbird oder LibreOffice. Aber am liebsten arbeite ich mit schlanken Programme für die Kommandozeile. Fein justierbare Spezialisten, die ihre Aufgaben besonders schnell und reibungslos erledigen. Programme, die die elegante Unix-Philosophie auf besonders gelungene Weise umsetzen. Debian hält eine ganze Bibliothek solcher Klassiker bereit. So kann man zum Beispiel mit keinem anderen Programm so schnell und ablenkungsfrei Nachrichten lesen wie mit dem RSS-Reader Newsbeuter. Und die Wetter-Anwendung wttr.in zaubert den saubersten Wetterbericht auf die Konsole, den ich kenne.

Hier ein Einblick in meine Werkzeugkiste:

Funktion Programm
Windowmanager Fluxbox
Browser Firefox
Mail Thunderbird
Cloud Nextcloud-Client
Notes QOwnNotes
Text LibrOffice/Emacs OrgMode
Editor Kate/Emacs
Filemanager Double Commander
Foto-Verwaltung Digikam/Gwenview
RAW-Entwickler Darktable
RSS-Feeds Newsbeuter
Website Hugo + rsync
Musik Clementine
Sound Pavucontrol
XMPP-Messenger Gajim
Bildbearbeitung Gimp
Wetter curl wttr.in

Nach dem Desaster mit iPhoto archiviere ich meine Fotos heute mit Hilfe einer simplen Ordnerstruktur, organisiert nach Jahren und Monaten. Verwaltet werden sie zuverlässig von Digikam. Das Programm hat mehr Funktionen, als ich jemals nutzen werde. Aber meine Ordner-Struktur ist so einfach, dass eigentlich ein einfacher Bildbetrachter für die Verwaltung ausreichen würde.

Statische Website mit “Hugo” unter Debian

Meine Website erstelle ich mit dem Static Site Generator “Hugo”, der bei mir unter “snap” läuft, da die Paketversion von “Hugo” in “Debian Stretch” nicht die frischeste ist und viele Funktionen noch nicht unterstützt.

Hier findet sich eine gute Einführung in den statischen Seitengenerator. Hugo ermöglicht es mir, meine Blog-Einträge schon beim Schreiben mit Hilfe der einfachen Auszeichnungssprache “Markdown” zu formatieren. Das ist elegant und macht Spaß. Die Markdown-Dateien werden von Hugo dann in reine HTML-Dateien umgewandelt und als solche später direkt auf den Web-Space kopiert.

Statische Webseiten wie dieses Blog sind nichts anderes als ein einfacher Ordner mit untereinander verlinkten HTML-Dateien auf einem beliebigen Webspace. Statische Webseiten unterscheiden sich grundlegend von dynamischen Seiten wie sie zum Beispiel Wordpress generiert.

Bei einem Wordpress-Blog befinden sich alle Daten in einer Datenbank und werden erst bei der Abfrage mittels der Skriptsprache PHP zu einer HTML-Seite zusammengesetzt. Für jede neu aufgerufene Seite muss das PHP-Skript erst allen notwendigen Content aus der Datenbank fischen und zu einer neuen Seite zusammenfügen. Wordpress sieht einfach aus. Doch kein Laie versteht, was in den Kulissen passiert.

Vorteile statischer Websites: Schneller, sicherer und verständlicher als dynamische Websites. Ausserdem sind sie leichter zu sichern. Und auf dem Webspace werkelt kein schwerfälliges Content-Management-System, das ständig upgedatet werden muss. Es gibt einfach nur ein paar HTML-Seiten.

Nachteile statischer Websites: Statische Website verfügen über kein Webinterface. Man kann seine Seite also nur von einem einzigen Rechner aus aktualisieren. Ausserdem sind Kommentarfunktionen nicht einfach zu implementieren.

Jedes Mal, wenn ich heute über ein Terminal auf meinen Webspace zugreife und mit dem Synchronisierungsprogramm “rsync” die neuesten Aktualisierungen auf meine Seite kopiere, erfasst mich tiefe Zufriedenheit.

Abschließend muss ich allerdings zugeben, dass sich meine Familie vor dem nüchternen Fluxbox-Thinkpad noch etwas fürchtet. Noch immer nutzen sie lieber den inzwischen nun wirklich schon sehr altersschwachen Alublock-Apple. Doch sobald er endgültig stillstehen wird, werden sie wohl oder übel ein bisschen Debian lernen müssen. Schaden wird es sicher nicht. Vor allem nicht mir. Denn ich kann dann endlich auf dem Macbook Debian “installieren.”

Weiterführende Lektüre

Kommentare

Gern an: [vorname][punkt][nachname][at]][gmx][punkt][net]
Auf Wunsch und nach Absprache kann ich Anregungen, Kritik und Diskussionen gern in einem Kommentarbereich unter diesem Artikel veröffentlichen. Mit diesem Trick können wir gemeinsam eine statische in eine dynamische Website umwandeln.


  1. NACHTRAG: Nach Lektüre von Henrik Bunkes schönem Blog-Eintrag “Unix ist Text ist Unix” wird mir plötzlich klar, dass ich nicht etwa Word 6 unter Windows 3.1 nutzte - beides lief nämlich schon unter einer grafischen Benutzeroberfläche. Sondern ich schrieb meine Arbeit auf Word5 unter DOS. Dateimanager muss Xtree gewesen sein. Jetzt, wo ich nach den Bildern googele, erinnere ich mich. Und beinahe rieche ich den Pinienduft von Aix-en-Provence. Die Proustschen Gesetze der Erinnerung laufen sogar unter DOS. [return]