Die Flammen raubten ihr Spitzturm und Dach, und doch hielt sie stand, wie seit Jahrhunderten. Von Geschichte und Seele der Kathedrale Notre-Dame
Da steht sie, trotz allem. Hoch oben, auf der Galerie mit den steinernen Fabelwesen, die über Paris wachen, blitzt der silberne Helm eines Feuerwehrmannes – er selbst eine wohlwollende Chimäre. Fünf Kirschbäume stehen am südlichen Portal. Sie blühen in voller Pracht. Die Hitze hat sie nicht vernichtet. Ein Wunder, noch eines.
Spiritueller Blitzableiter
Über den rosafarbenen Baumkronen das riesige Rosettenfenster im Querschiff. Das Meisterwerk aus dem 13. Jahrhundert hat gehalten. Darüber das kleine Rundfenster ist beschädigt, aber die steinernen Einfassungen intakt. Aus ihm haben Flammen gezüngelt und die Fassade eingerußt. Durch die feinen Steinornamente schimmert das Stahlgerüst, verbogen, zerrissen, zerfetzt, von hier aus hat sich wohl das Feuer ausgebreitet. Das Dach fehlt, ebenso der stolze Spitzturm aus dem 19. Jahrhundert, spiritueller Blitzableiter der Stadt.
Es ist ein Elend. Und trotzdem: Jeder, der die Kathedrale erblickt, zeigt erst einmal Erleichterung. So stark ist ihre Silhouette, so archaisch schön, dass ein fehlendes Dach, ein eingestürztes Türmchen sie kaum beschädigen kann. Jeder ist erst einmal erfreut, sie wiederzusehen. Denn mit ihr ist es immer ein Wiedersehen. Jeder hat sie schon einmal gesehen. Ob in Wirklichkeit, auf Postkarten, im Film oder irgendwo tief in sich drin. Notre-Dame ist das Urbild einer Kathedrale.
Da steht sie, trotz allem. Wie ein Wort an einer besonders schönen Stelle ein einem überwältigenden Text. Paris, Ile de la Cite – wenn UNESCO Welterbe, dann das hier. Vielleicht fehlen ein paar Vokale. Aber man liest es und freut sich: NtrDamdePrs.
Wollartige Platen-Samen
Der Wind, der vor zwei Tagen noch den Brand angeheizt hat, kräuselt die Seine. Auf den Quais am Ufer versammeln sich die Menschen. Seit Tagen strömen sie herbei. Wollen einfach nur schauen. Sich austauschen. Respektvoll sind sie, wie auf einer Trauergesellschaft. Wollartige Platanen-Samen schweben in der Luft, überall. Eine Dame fragt, ob das noch Asche sei und entschuldigt sich sofort für ihre seltsame Frage, sie sei noch unter Schock. In den Bars hört man: „Ich gehe jetzt noch zu Notre-Dame.“ Wenn die Leute abends ihre Arbeit verrichtet haben, verabschieden sie sich von ihren Kollegen mit den Worten: „Ich gehe jetzt noch bei Notre-Dame vorbei.“ Der rituelle Refrain dieser Ostertage lautet „Notre-Dame.“
Thierry steht am gesperrten Pont de l’Archevêche und erzählt, wie er den Brand beobachtet hat, fiebrig, immer hoffend, dass die Feuerwehr den Kampf gegen die Flammen gewinnt. Er hat eine enge Beziehung zu der Kathedrale. In den 70er Jahren hat er seine Abschlussarbeit in der renommierten Hochschule für Kunstgewerbe „Ecole Boulle“ geschrieben. Für zwei Wochen hat man ihm damals die Schlüssel der Kathedrale überlassen. Er war wie Quasimodo. „Ich hatte die Kirche ganz für mich alleine. Zwei Wochen, jeden Abend. Konnte sie genau studieren. Habe Freunde eingeladen. Wir sind aufs Dach, haben auf die Stadt geschaut. Heute komme ich zu ihr wie an das Krankenbett eines guten Freundes oder Verwandten. Er hat eine schwere Zeit gehabt. Es stand schlimm um ihn. Aber er wird durchkommen.“
Claude Gauvard war noch nicht am Krankenbett. Sie schafft es noch nicht. Sie ist eine von Frankreichs renommiertesten Historikerinnen, Spezialistin fürs Mittelalter, jener Epoche, in der die Kathedrale entstanden ist. Sie hat Notre-Dame ihr ganzes Leben lang studiert, besucht, bewundert. Kennt sie wie kaum jemand. Sie erinnert sich an den Abend der Katastrophe: „Mein Mann sagte mir: ‚Notre-Dame brennt!’ Ich habe das erste Bild gesehen, und das war’s. Ich habe alles ausgemacht. Ich konnte sie nicht brennen sehen. Noch immer meide ich die Fotos in den Zeitungen. Ich habe den ganzen Abend geweint. Es ging mir schlecht. Ich hatte den Eindruck, ein Familienmitglied zu verlieren.“
Solidarität vergeht schnell
Inzwischen überwiegt auch bei Claude Gauvard Erleichterung. Man hat ihr berichtet, dass die Kathedrale sich tapfer geschlagen habe. Und nun will auch sie für Notre-Dame kämpfen. Allen ihre Schönheit und ihre Geschichte nahe bringen. Damit die Aufmerksamkeit nicht erlischt. Dann als Historikerin weiß sie, kollektive Solidarität vergeht schnell. „Mit Notre-Dame ist ein Stück Frankreich in Flamen aufgegangen. Aber dieser Brand birgt auch die Chance, dass die Schätze dieses Landes mehr ins Bewusstsein treten. Man ist sehr leichtfertig mit diesem Gebäude umgegangen in den letzten Jahren. Hat es nicht gepflegt. Als hätten die 14 Millionen Besucher das Bewusstsein der Verantwortlichen eingelullt. Aber so ein Monument trägt sich nicht alleine.“
Die Kathedrale ist das Herz Frankreichs. Sie symbolisiert das historische, politische, kulturelle und geografischen Zentrum des Landes. Auf ihrem Vorplatz ist eine Kupferplatte eingelassen, die den geografischen Nullpunkt Frankreichs markiert. Entfernung zu Paris heißt Entfernung zu Notre-Dame. Jede der vielen Nationalstraßen, die strahlenförmig von Paris in das hoch zentralisierte Land führen, hat ihren Nullkilometer bei Notre-Dame. Wie ein Schiff liegt die Kathedrale in der Seine. Nach dem Brand scheint sie mehr denn je das Motto der Stadt zu verkörpern: „Fluctuat nec mergitur“, „Sie schwankt, aber geht nicht unter.“
Notre-Dame ist das steinerne Geschichtsbuch Frankreichs. Alle Epochen haben sich in ihr kondensiert. Schon während der römischen Besatzung Galliens befand sich an ihrer Stelle ein Tempel, der Jupiter geweiht war. Wem sonst? Diese strategische Stelle inmitten der Seine hatte immer eine Direktverbindung zu allerhöchsten Mächten.
Lesen Sie die vollständige Geschichte im “stern” vom 25. April 2019