The sun also rises over Altenburg. Ingo Schulzes “Simple Storys” (junge Welt 02.04.98)
Zuerst die Fakten, Fakten, Fakten: 29 Stories à 10 Seiten, jede Story ein Kapitel, und aus dem Buchrücken kommt ein güldenes Lesebändchen, sehr benutzerfreundlich. Das Casting: 25 Personen in Haupt- und Nebenrollen, 14 davon erzählen 19 der Stories. Die ostdeutsche Provinz erzählt, behauptet, legt Geständnisse ab, beichtet, macht Vorwürfe, schreibt mit, beteuert und versteht miß. Die restlichen 10 Stories übernimmt ein mehr oder weniger über allem schwebender Erzähler, allwissend sozusagen. Eine sehr demokratische Stimmenverteilung: ein Nachwenderoman!
Jeder Story geht eine Vorabresüme voraus, gespielt unschuldig, aber schon mal vorsichtig die Aufmerksamkeit auf ein verstecktes Eckchen in der Geschichte lenkend, in der dann entweder besonders viel Staub liegt oder sich das Licht besonders schön sammelt. Über allem liegt ein Hauch von „Berlin Alexanderplatz.“
Ist die Welt erzählbar, kann man heute noch Geschichten erzählen, und wenn ja, können das die Passagiere der Mayflower besser als die des Narrenschiffs? Geh mir weg mit solchen Bärenfallen. Schulze erzählt, der Titel behauptet nichts anderes, und er erzählt mit einem Kaugummi im Mund. Yeah man! „Simple“ ist hier natürlich erst mal gar nix, sondern meint nur jene Ungerührtheit Hemingways, der noch in seine Ramington tippt, wenn der Löwe die Pratze schon auf dem Farbband hat.
Aber was denn jetzt, Pepsi oder Coca, Stories oder Roman?
Stories! Denn jede einzelne Geschichte könnte man in die Titanverkleidung von Apollo 13 gravieren und in die Erdumlaufbahn schicken. Sie würde auch noch in der Stratosphäre funktionieren. Auf einer Ebene zumindest.
Roman! Denn alle Personen sind miteinander vernetzt, -wandt, -liebt, oder -feindet. So verwebt Schulze all seine Geschichten, beleuchtet seinen Kosmos immer wieder aus einer neuen Perspektive, aus der Sicht des Opfers, des Täters, des Liebenden, des Hassenden. Und es macht immer noch genau so viel Spaß wie damals bei „Manhattan Transfer“, wenn man bei all dem Perspektivwechsel doch weiß, daß die Welt im Innersten zusammenhält. Motivisch sind die Stories sehr stabil verklammert, der Roman ist Feinstrickware: Ein Knopf, der auf Seite 167 schon etwas lose saß, reißt 13 Kapitel und 128 Seiten später dann ab. Körperpositionen tauchen wieder auf: Der Liebhaber einer Frau sieht diese während ihrer Trennungsszene in derselben Position, in der ihr ehemaliger Liebhaber sehnlichst wünschte, sie zu sehen: Die Beine angewinkelt, Close Up auf die nackten Zehen und die Ferse. Des einen Begehr ist des anderen Überdruß. Und ein Buch, in dem im Abstand von 224 Seiten zweimal die Tempelpaviane von Bangkog vorkommen, kann nicht verkehrt sein: „Für die zählen auch nur die eigenen Gene!“
Es lohnt sich, beim Lesen noch ein paar Speicherplätze im Gedächtnis frei zu haben. Themen werden variiert, Rätsel gelöst, Motive umgekehrt und gespiegelt. Manche Geschichten stülpen den Sinn einer vorangegangenen noch einmal um, und man muß wieder 10 Felder zurück, was alles andere als Mensch ärgerlich ist.
Bei so vielen Perspektiven fragt man sich, ob das dann auch mehrstimmig komponiert ist. Ist es. Jeder Erzähler hat ein besonders angeschliffenes Empfindungswerkzeug (allesamt sehr scharfe!). Eine erzählende Tierpräparatorin z.B. hat ein spezielles Sinnesorgan für versehrte Körperhüllen, berufsbedingt, und ihr Blick fällt auf aufgeschürfte Knie und entzündete Nagelbetten. Die Finesse ihrer Geschichte besteht darin, daß sie den tödlich versehrten Körper einer anderen Protagonistin nicht zu sehen bekommt, ihn nicht einmal erwähnt. Man spürt die organisierende Hand des Autors, der der Story ein Innenfutter aus tragischer Ironie einnäht. Langsam kippt in dieser Geschichte der Ton um. Erst muß man ordentlich lachen über Sätze wie: „Haben Sie das von den Tempelpavianen gelesen? Was da los ist?“ Es folgt eine reifenquietschende Spritztour durch die Welt der Tiere, man muß immer noch lachen, aber irgend etwas stimmt hier nicht. Dann dämmert einem, daß die Komik dem verwirrten Kopf einer Frau unter Unfallschock entspringt, und das ist dann nicht mehr so lustig. Das alles als Protokoll einer Tierpräparatorin: Jeder Satz liegt in 90-prozentigem Alkohol und zwischen den Zeilen riecht´s nach Formaldehyd.
Schulzes Stil ist biegsam. Es gibt Thriller-Einlagen, phantastische Szenen inklusive Kirchturmfassade im Nebel, aber alles sehr diskret. Einmal parodiert er sich sogar selbst: Mit dem hardboiled Hemingway-Remix „Die Killer“, in der zwei Anzeigenacquisiteure es ihrem Konkurrenten mal so richtig zeigen, treibt Schulze das Prinzip der Short Story als Ostprodukt auf die Spitze. Das ist sehr lustig, und die Dialoge sind genauso cool wie die Luft unter dem kreisenden Ventilator.
„Im ganzen Buch kommt nicht 1 Mal ´Corned Beef´ vor“, beklagte sich Arno Schmidt 1x. Bei Schulze auch nicht. Aber dafür der Duft der Bratwürste, Milchreis, das „Möbelparadies“, ein roter Duftbaum an einem Rückspiegel, ein Zitat von Tic Tac Toe (Mister Wichtig!), ein Entsafter u.v.a.m. Die Außenwelt ist erfolgreich durch die Buchdeckel diffundiert und sagt hier sehr viel über die Innenwelt der Figuren.
Und um was geht´s jetzt? Um alles, die Lage der Nation und die Leberwurst natürlich, dafür hat man ja die Short Story. Generell greift aber auch hier der Witz meiner Freundin Gisèle: „Was passiert, wenn man eine Blues-Platte rückwürts abspielt? - Man bekommt den Job, das Geld, die Frau und all die glücklichen Tage zurück.“
Und jedesmal kommt dieses ganz bestimmte Kurzgeschichten-Feeling auf: Im gegenüberliegenden Fenster geht plötzlich das Licht an, und man erhascht einen Blick auf eine kuriose Konstellation des Begehrens, eine Geste der Verwirrung oder eine ungelenke Choreographie des Abschieds. Die stilistische Wette der Stories scheint darin zu liegen, über 10 Seiten immer so haarscharf an des Pudels Kern vorbeizureden, ihm auf diese Weise eine Art Effet zu geben, bis der Kern anfängt, etwas unberechenbar zu kreiseln. Und wenn der Vorhang zu- und das Licht wieder ausgeht, gucken Pudel und Leser leicht angeschickert aus der Wäsche. Nennen wir es Augenblicke des Glückes. 29 diesmal. Wer schon einmal eine lebendige Liebe hat begraben müssen und nun den Pegelstand seines inneren Wasserspiegels messen möchte, lese erst mal „Kinder“: Wem bei der Kadenz nicht die Tränen kommen, der hat keine mehr.
Schulze hat ein sehr gutes Zoom-Objektiv, das im Weitwinkel ebenso gute Bilder macht wie im Makrobereich. Das Buch ist voller präziser Gesten, bewegender Griffe nach Händen, konzentrierter Schnitte in Apfelsinen und auf der Speisekarte verharrender Finger. Jede dieser Situationen, dieser Gesten mit dem dazugehörigen Personal erscheint sehr plastisch im Hologramm eines unaufgeregten Stils, der alles klar vor Augen führt, anstatt einem närrisch hin- und herzappelnd die Sicht zu versperren. Der Leser bekommt das Gefühl, Schulze hätte ihm die Brille geputzt.
Manche der Erzähler schildern Gesten von fast schon hypnotischer Wirkung, und die Gestenabfolge erscheint wie eine Art Zen-Ritual, über das die Person sich immer näher kommt und dann plötzlich ganz bei sich selbst ist. Das scheint mir nun der heiße Kern des Buches zu sein: Von der Kernspaltung zur Kernfusion … und wieder zurück. Die letzten zwei Sätze des Romans lesen sich da eher optimistisch. Nach all dem Aneinander-vorbei-Gerede ist mal Sense mit babylonischem Gequassel, Blasmusik spielt auf, und die vermag ja bekanntlich einiges: „Wie auch immer, Martin und ich verfallen in Gleichschritt. Und selbst als wir die Fußgängerzone verlassen, ändert sich daran nichts.“ Stumm, in Taucheranzügen, mit Schnorcheln im Mund und Flossen an den Füßen, geht ein frisches Paar durch eine verregnete Fußgängerzone als durchquerte es die Sintflut, als tauchte es unter dem Zorn Gottes her. Story Nummer 25 heißt „Mein Gott, ist die schön!“ Mehr möchte ich zu der letzten Geschichte dieses Bandes nicht sagen. Ich glaube auch nicht, daß ich jetzt Lust habe, solche Fusionssehnsüchte zu einem symptomatischen Nachwendewunsch zurechtzubiegen. Sie etwa?
Ingo Schulze: Simple Storys, Berlin Verlag, Berlin 1998, 288 S., 38 DM