1988 erpreßt Arno Funke das KaDeWe und erhält 500 000 DM. Im Laufe der Jahre 1992-1994 versucht er unzählige Male, den Karstadt-Konzern zu erpressen, indem er in verschiedenen Filialen Bomben explodieren läßt. Niemand wird ernstlich verletzt. Funke organisiert unter dem Pseudonym Dagobert teils sehr originelle Geldübergaben, die allesamt scheitern. Er wird 1994 verhaftet und 1996 zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt, die er zur Zeit in der JVA Plötzensee verbüßt. Man stellt heute Forderungen von insgesamt ca. 5 000 000 DM an ihn.
In seiner Zelle hat Funke seine Erinnerungen an seine Zeit als Erpresser geschrieben. Man kann diese Memoiren eines Erpressers als eine besondere Art von Künstlerbiographie lesen.
Funke arbeitet 1988 als Kunstlackierer in einer Auto- & Motorradwerkstatt. Er hat künstlerische Ambitionen, träumt von echten Bildern, findet aber nicht die Kraft, die ihm vorschwebende Kunstwerke jenseits von Motorradtanks zu verwirklichen. Seine Kunst beschränkt sich auf „bildhafte Motive“, „dekorative Muster“ und „schillernde Effektlacke“. Sein Leben verliert Sinn, Funke wird hochdepressiv, fängt an zu trinken und hat Selbstmordgedanken. Für seine Depressionen macht er Lackdämpfe verantwortlich. Das Motiv der sinnenraubenden Dämpfe tippt Funke in seinen Memoiren an einer entscheidenden Stelle wieder an; als er seine zweite Bombe im KaDeWe deponiert, kommt er durch die Parfumabteilung: „Der süßlich schwere Duft in der Parfumabteilung raubte mir fast die Sinne, die ich eigentlich alle beisammen haben sollte.“ Poison! Lösungsmittel und Parfum, der Duft der weiten Welt und die korrosiven Dämpfe der Lackierkammer: das olfaktorische Spektrum des Arno Funke. Der Glanz der Welt wird zum Lösungsmittel: „Die Beleuchtung in den Verkaufsräumen blendete mich. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Gehirn in dem Gewirr von Lichtreflexen auflösen.“
Der depressive Funke, der sich schon als gescheiterte Künstlerexistenz ohne Werke sieht, entwickelt in seinem 38. Jahr Kindheitssehnsüchte: „Ich ging weiter zur Lebensmittelabteilung und überlegte dabei, daß kleine Kinder noch etwas Animalisches an sich haben. Sehen, Fühlen und Denken und Handeln bilden noch eine Einheit. Erst später, im Erwachsenenalter, wird alles so kompliziert und schwer durchschaubar.“
Seine erste Bombe deponiert Funke mit motivischer Folgerichtigkeit in der Spielzeugabteilung des KaDeWe. Was auch von seinem dramaturgischen Gespür zeugt; eine andere Bombe läßt er in einer Porzellanabteilung explodieren.
Von seinem ersten und einzigen Erpressungsgeld fährt er mit Freunden mit dem Motorrad-Zug in einen Trike-Urlaub: „Das Schaukeln und Wiegen des Waggons hatte etwas Beruhigendes für mich. Vielleicht war es eine Erinnerung an die Kindheit, an das geborgene Gefühl, das man gehabt haben mußte, wen man mit dem Kinderwagen durch die Gegend geschoben wurde. Nun war ich dabei, mit einem Dreirad in den Urlaub zu fahren, das hatte etwas von Kontinuität.“
Auf seine existentielle Krise antwortet Funke mit ausuferndem Spieltrieb. Nur im Spiel ist der Mensch frei. Funke findet seine Freiheit in Bastelarbeiten. Der Verbrecher als Homo Ludens. Seine Bomben funktionieren. Aber keine seiner raffinierten Spielereien führt zu einer erfolgreichen Übergabe. Sein einziges Geldpaket sammelt er betrunken über einen Gleiskörper stolpernd ein. Keine seiner Übergabemechaniken ist im Spiel. Funkes Bastelkunst ist Art pour l’Art.
Außerhalb des Ateliers ist sie unnütz und macht sich nicht bezahlt. Nur die Erinnerung erhört Dagobert Forderungen und zahlt ab und an mit ein bißchen Kindheit: „Ich kramte in meinen Erinnerungen. Sah mich, wie ich als Kind mit Elektronik- und Chemiebaukasten hantierte und wie ich mit selbstgemixtem Schwarzpulver versuchte, Raketen steigen zu lassen. Meistens weigerten sie sich, in den Himmel zu fliegen. Hin und wieder rumste es ganz ordentlich, aber das war’s dann auch.“ Der letzte Satz resümiert Funkes Erpresserkarriere.
Nach der ersten erfolgreichen KaDeWe-Erpressung mietet sich Funke eine Werkstatt in Berlin Bohnsdorf, in der er sein Gewerbe professionalisieren will. Hier erfindet er die kunstvollen Apparate für seine Übergaben, die jedoch allesamt scheitern. Es ist eine Rückkehr in die fast ländliche Idylle seiner frühen Kindheit, der neue Arbeitsraum hat etwas uteral Gemütliches: „Ich mochte Bohnsdorf, erinnerte es mich doch an das Rudow der 50er Jahre. (…) Ich saß in meiner Werkstatt, im Kachelofen bullerten und knisterten die brennenden Holzscheite, und durch die offene Ofentür fiel ein warmer, flackernder Schein in das Halbdunkel des Raumes.“ In der Werkstatt findet der eigentliche Spaß des Lebens statt: „Das Planen und Vorbereiten war eigentlich wie ein Spiel, in dem ich meinen Drang zum Tüfteln ausleben konnte. (…) Für mich hätte es ewig so weitergehen können, wäre da nicht der Druck gewesen, die Planungen in die Tat umzusetzen.“ Der Ganove aus dem Hobby-Raum.
Die Bohnsdorfer Werkstatt wird zum Kuriositätenkabinett. Eine Art Requisitenkammer für James Bond bzw. Robbi, Tobi und das Fliwatüt. Funke entwickelt sich zum Gimmick-Kriminellen. Die Vorbereitungen zu den verschiedenen Übergaben werden zur surrealistischen Bricolage.
Funkes Apparate kommen aus der Theaterwelt. Diese Traummaschinen machen ebensoviel Spaß wie Jules Vernes Raketen, U-Boote und propellergetriebene Inseln. Streukästen und Koffer mit doppeltem Boden, Fernsteuerungen, Topfmagneten, Zeitschaltuhren, Zifferblattattrappen, die irreführende Zeiteinstellungen zeigen und ein Deus ex Machina in Form einer Umlenkwinde: oft installiert Funke seine Geräte in einem poetischen Dekor und macht seine Übergabeorte zur stimmungsvollen, aber trickreichen Freilichtbühne: „Auf der Wasseroberfläche waberte träge der Frühnebel wie bei einer Bühnenshow und hüllte mich beim Schwimmen wie eine weiße Decke ein.“ Hans Klok: Magic for the New Millennium.
Der erste Übergabeapparat wird am Havelufer installiert: „Für die Übergabe hatte ich mir eine batteriebetriebene Seilwinde gebaut. Die wollte ich auf dem Grund eines Gewässers befestigen. Ein wasserdicht abgekapselter Elektromotor sollte eine Kabeltrommel antreiben, die eine schwarze Litze aufwickelt, an deren Ende ein zigarrenkistengroßer Behälter befestigt ist. Diesen wollte ich an einem Bootssteg bereitlegen. Für den Boten sollte es so aussehen, als würde der Behälter mit dem Geld unter Wasser zum gegenüberliegenden Ufer gezogen. In Wirklichkeit sollte er über eine Umlenkrolle zur Seite geführt werden, um dann auf dem Grund des Gewässers liegenzubleiben, bis ich ihn abholen würde.“
Während Funke sich vorstellt, wie die Beamten von der Umlenkwinde getäuscht werden, döst er am Havelstrand: „Dann träumte ich von Urlaub unter warmer Sonne, von weißen Stränden, von wogendem Seegras, und ich roch im Traum deutlich das Meer und schmeckte die salzige Luft.“ Die Umlenkwinde hat ihre Funktion erfüllt: sie hat Funke aus der Wirklichkeit gehievt. Mehr kann man nicht verlangen.
Hier taucht der Erpresser: „Anschließend tauchte ich mit dem Geldbeutel wieder auf und schwamm in Richtung Schiff. Dabei wickelte sich unter Wasser langsam die Litze von der Kabeltrommel ab.“ Umlenkwinde hin, Kabeltrommel her, Funkes wasserdichte Schatzkiste am Havelufer bleibt leer. 50 Seiten später ist der Havel-Taucher bei der Geburt seines Sohnes anwesend: „Die Ärztin wickelte unseren Sohn wie eine Kabeltrommel ab, weil sich die Nabelschnur fünffach um seinen Hals gelegt hatte.“ Hier funktioniert die Übergabe. Funke zieht einen Sohn an Land; ihm sind die Memoiren gewidmet.
Funkes Fantasie steht im Blaumann an ihrer Werkbank, in ihren Taschen Schraubenzieher und Pinsel. Seine Bilder kommen aus der Bastelwerkstatt, dem Märklin-Katalog, dem OBI-Markt, Abteilung Farben, Lacke und Tapeten, aus der Automatenwelt oder von Elektro-Konrad: „Ich kam mir vor wie eine Kugel im Flipperautomaten.“
Sein erster Alptraum im Knast führt ihn nackt in eine Talkshow in einem Baumarkt. Im Knast wird Funke dann vollständig zum Homme-Machine: „Immer wieder schlug er seinen Hinterkopf gegen die Wand, so wie mancher auf ein defektes Gerät schlägt in der Hoffnung, so einen Wackelkontakt zu beheben.“ Spricht Funke sonst in der ersten Person, schreibt er in den Gefängnis-Passagen in der dritten Person.
Würde man alle Apparate, Maschinen und Geräte zusammentragen, stünde man in einem imposanten Kuriositätenkabinett. Funkes fantastischstes Sammlerstück ist ein Nachtsichtgerät aus den Restbeständen der russischen Armee. Es wird sein vertrauter Begleiter: „Es pfiff mir wieder sein monotones Lied.“ Bei nächtlichen Übergaben schwingt er sich auf sein Fahrrad, setzt die „Optik“ auf und rast durch die tiefschwarzen Wälder Mecklenburgs oder Norddeutschlands. Kostet ihn zwar 1000 DM, bringt ihm keinen Pfennig, aber transportiert ihn straight zurück in die Kindheit und glattweg zu den Sternen: „Durch mein Nachtsichtgerät erblickte ich ein überwältigendes Sternenmeer. Ich stand fasziniert auf einer Lichtung des Waldes und erinnerte mich, wie ich als Kind davon geträumt hatte, zu den Sternen zu reisen, und welche Sehnsucht mich damals beim Anblick der Milchstraße ergriffen hatte, als wäre dort oben irgendwo meine eigentliche Heimat.“ Eigentlich will dieser Verbrecher nur Sterntaler.
Funke ist ein strukturalistisch arbeitender Verbrecher. Er entwickelt ein analytisches Modell der Übergabesituation und leitet davon einen neuen Apparat ab: „Wenn unsere Wege wie Linien waren, die sich kreuzten, dann müßte etwas dazwischen sein, das den Schnittpunkt unkenntlich machte. Wenn unsere Wege nun auf verschiedenen Ebenen verliefen? Die Polizei oben, ich unten? Wie ein Zauberer mit einer Kiste, die einen doppelten Boden hatte.“
Der Trickkünstler arbeitet mit einer Streukiste über einem präpariertem Kanaldeckel. Spiegelungen, Parallelführungen von Kreuzungen, Perspektivwechsel, Ober- und Unterbau: Funke beschreibt den Ort der Übergabe: „Hunde führten ihre Besitzer Gassi und verteilten dabei ihre Duftmarken auf den Bürgersteigen.“ Genau. Das klassische Herr und Knecht-Modell und die dialektische Frage: Wer führt hier eigentlich wen an der Nase herum?
Funke betont, daß seine große Krankheit in dieser Zeit die Unfähigkeit war, Stimmungen zu empfinden. Seine Maschinen und Mixturen wandeln jedoch Landschaften und Situationen in Stimmungen um: „Es war ein warmer Morgen im Mai. Die Sonne strahlte, und es grünte und blühte in den Gärten, als ich in der Küche stand und mit meinem selbstgemixten Sprengstoff hantierte. Aluminium flirrte durch die Luft (…)“ Der Alchimist beim Schwarzen Werk. Seine Gerätschaften sind lyrische Katalysatoren, Poesiefilter, Gefühlsumwandler: in dreimonatiger Bastelarbeit hat Funke ein U-Boot gebaut: „Bei der ganzen Bastelei hätte ich alle meine Sorgen vergessen können, wenn nicht der Zeitdruck gewesen wäre. (…) Die große Reisetasche mit dem Boot hatte ich zwischen den Beinen und schaute über die weite Wasserfläche, die sich mit dem Grau des Himmels vereinte. Der Fluß dampfte unter dem prasselnden Regen. Ich ließ die Stimmung auf mich wirken(…)“ Der Freiherr von Eichendorff mit dem Y-Heft im Ränzel.
Landschaften und Städte sind Funkes Komplizen: „So ließ ich die Berliner Stadtlandschaft an mir vorbeiziehen, starrte aus dem Fenster und wartete auf eine Eingebung.“ Im Verbund mit den Trickapparaten entwickeln sie eine Poesie des Zweckmäßigen. Funke läßt den Dekor mitspielen: Stillgelegte Gleise werden reaktiviert, Kanalsysteme abgeschritten, ausgeleuchtet und präpariert. Das Laub ist klassische Tarnung. Das kristallklare Gedächtnis des Schnees wird zur Bedrohung. Der Erpresser ist bemerkenswert involviert in die Landschaft. Er ist aber auch Flaneur, und sein Blick auf die Stadt ist ein ungewohnter und deswegen poetischer: Diesen Gleisstrang überblende ich mit dem Fahrplan der Deutschen Bahn und heraus kommt die ideale Geldabwurfstelle. Durch diese Tür werde ich in den Untergrund verschwinden. Die Stadt wird zur Fälschung: Briefkastenattrappen werden aufgehängt, Klingelschilder falsch beschriftet, vor eine Tür wird eine auf alt getrimmte Plakatwand geschraubt. Der gelernte Schildermaler Funke arbeitet mit dem Trompe-l’Oeil-Verfahren.
Funke ist ein manieristischer Gauner, der manchmal ahnt, was für ein wurstfingriges Publikum er mit seinem „Sonderkommando Dagobert“ hat: „Die nehmen einfach das U-Boot mit und behaupten später, es habe nicht funktioniert.“
Aber zum Schluß schafft es der Künstler doch noch. Seine besten Werke kommen ins Museum. Kündigt zumindest der vernehmende Hauptkommissar an: „Wir haben einen Raum, da ist die Wand ganz voll mit Akten - von der Asservatenkammer ganz zu schweigen. Was wir dort zusammengetragen haben, ist enorm. Ein paar von Ihren Sachen werden bestimmt im Kriminalmuseum landen.“
Wenn alles gut geht, kommt Arno Funke im April 2000 aus der JVA Plötzensee. Er träumt von einer Karriere als bildender Künstler nach seiner Freilassung. Auf der Pressekonferenz zur Veröffentlichung seiner Erinnerungen wurde er nach seinen Vorbildern gefragt und bekannte seine Vorliebe für Maler des Realismus.
Hoffentlich nutzt Arno Funke noch die Monate, um sich künstlerisch umzuorientieren: zum dadaistischen Daniel Düsentrieb.
Arno Funke: Mein Leben als Dagobert, ca. 300 S., 39,80 DM (Ch. Links Verlag)