Rainer Langhans traf sich mit einigen Weggefährten im Berliner Tempodrom (Hessischer Rundfunk, 31.08.98)
Eine Splittergruppe der 68er-Bewegung und ihr Ex-Kommunarden-Commandante Rainer Langhans hatten gute Laune. Sie nannten sich „Die Zuversichtlichen“, bildeten einen „Wohlfühlausschuß“ und wollten „die Auflösung des Staus“ feiern. Statt zum Jahresball der ADAC-Staumelder zu gehen, richteten sie ein Fest aus. Namensgeber war der stadtbekannte Bundespräsident Roman Herzog, der auf einer Marketing-Veranstaltung des Berliner Luxushotels Adlon umstürzlerisch forderte, ein Ruck müsse durch die Gesellschaft gehen, zwo, drei, vier, sdada, tirallalla. Der Che ist tot, Roman lebt, dachte die Splittergruppe, zwo, drei, vier, sdada, tirallalla, und nannte ihr Fest „Ready to Ruck.“ Am Samstag sollte es im Berliner Tempodrom den „Großen Potlatsch“ geben.
Potlatsch? Ja, jenes indianische Ritual, wo jeder gibt, was er so hat, er einen Skalp, sie einen Tomahawk. Man tauscht sich aus und raucht Friedenspfeife. Folgerichtig wird das Tempodrom-Tipi Punkt acht beweihräuchert. „Stimmung durch Räucherware“, sagt das Programm. In dem Rauch soll man schweigen und sich reinfühlen. Als man so richtig drin ist, holt Langhans einen wieder raus. Rainer Langhans ist der Conférencier und außerdem Gott. Oder sein unehelicher Sohn. Er trägt weißes Leinen. Ganz weiß, weil er rein ist. Nur um seine Turnschuhe läuft ein blauer Streifen. Das ist sein blauer Abwehrstreifen, damit die Unreinheit nicht vom Boden her seine Beine hoch kriecht und sich in seinem Herzen einnistet. Das ist auch aus weißem Leinen und atmet ruhig in einer leichten inneren Abendbrise. In Rainer wird es bald dunkel. Der Mann ist nett. Er versteht alles. Ist ein dicker Verständnisschwamm mit enormer Saugkraft. Man bräuchte den Langhans nur in das chinesische Überschwemmungsgebiet zu setzen, und er würde es einfach trocken verstehen. Wer von Langhans verstanden werden will, legt ihm die Hand auf die rechte Schulter und redet ihm leise ins linke Ohr. Streicheln darf man ihn auch. Manchmal streichelt er zurück. Irgendwen. Seine Frau über den Kopf. Seine andere Frau im Nacken. Einen aus dem Publikum über die Wange. Und einem Klatschreporter über den Ohrring. Mit fünf sehr gepflegten Fingernägeln. Merz-Spezialdragees. Für die Revolution ab 30.
Rainers Potlatsch war nix für die Kids. Nachmittags war am Brandenburger Tor die Hanfparade, die alle Youngsters in die Drogenfalle gelockt hatte und nicht mehr loslassen wollte. Hier konnte man lernen, daß man heute das anzieht, was sonst nur die Mikrofone der wichtigeren Rundfunkanstalten tragen: Wuschelflokati. Beim Potlatsch sah man dann nur die Flusenmikros, die Kids kifften woanders ihr Pot. So wurde die Veranstaltung unter Elder-Street-Fighting-Men auf einem Podest abgewickelt, auf dem zwei Sofas standen. Drum herum vier Kameras, die alles auf eine Großleinwand übertrugen. Wie bei der Mercedes-Hauptversammlung. Das schönstes Stück der Deko war ein Leuchtschild, auf dem zu lesen stand „On air.“ Und mehr wollte man auch eigentlich nicht. Endlich mal wieder on air sein. Hurra, wir leben noch! Endlich eine eigene Talk-Show, und nicht immer nur unterbezahlt in denen der anderen rumspringen. Rainer konnte sich auf der Leinwand sehen, das Publikum konnte sich auf der Leinwand sehen, und manchmal sah sich das Publikum auf der Leinwand, wie es Rainer sah. Dann redete man. Über das Reden. Ein Festival der Füllwörter. Und Leinwand. Und reden. Und Leinwand. Und reden. Im Sofa wird plötzlich einer traurig. Das unruhige Publikum will mit Christoph Schlingensief kuscheln. Aber der hat eine Depression. Sein Pressemann spricht von Fusteln und Pusteln. Bäh, mit so einem wollen wir nicht kuscheln. Das Publikum will sein Geld zurück. Mein Sitznachbar faßt die Hose von Dr. Motte an und lächelt: Fallschirmseide.
Da! Ein Mann mit Turban und Bart! Hurra, jetzt geht´s los! Die haben Bin Laden geladen. Der Bankier des Terrors in Berlin! Der nimmt uns alle mit in ein Trainingslager und bringt uns seine Lieblingssuren bei. Dann schnupfen wir Schwarzpulver und machen Revolution! - Och nö, das is´n Sufi, weil irgendein Revoluzzer-Girl von damals plötzlich den Schleier genommen hat. Gut. Also Sufis. „Wir sind gekommen, weil wir keine Einladung ausschlagen kšnnen“, sagt der Sufi-Mufti und meint: „Also Maul halten und zugehört, jetzt kommen wir!“ Er predigt lange und singt mit seinem Gefolge ekstatische Sachen. Es sind die 99 Luftballons, nein, die 99 Namen Allahs. Dazu dreht sich ein Derwisch, der ein bißchen wie DJ Bobo mit Turban und Bart aussieht. Sufis sind ja schon schräge Vögel. Schade, daß keine Eskimos da sind. Oder Lappen. Bzw. Meister Proper. Biene Maja wäre auch schön gewesen. Mit Willi und Godzilla. Meinetwegen auch ein tibetanischer Hochlandbewohner. Halt, den gibt´s! Der muß hier auf den Strich und singt nun von der Schönheit Tibets im Sommer und im Winter. Aber wie ist das Frühjahr in Kualalumpur? Und der Herbst in Turkmenistan? Scheißegal, man kann sich nicht um alles kümmern.
Langhans spricht das Schlußwort: „Ich denke, es war ein Versuch; wir können ihn furchtbar finden.“ Ich denke nicht. Man muß dabeigewesen sein. Sonst hat man vielleicht als Spätgeborener das Gefühl, damals was verpaßt zu haben.
Im Nachtbus bekomme ich Angst, daß der Fahrer sein Mikro anmacht und auch mal was sagen will. Einfach mal so erzählen will, wie´s ihm so geht, in seinem Bus, nachts, in der großen Stadt mit all ihren Lichtern, ihrem Funkeln und Blinken. Daß er manchmal tanzen möchte hinter seinem Steuer, da aber so wenig Platz ist wegen dem Schaltknüppel, und so´n Bus fährt ja nicht von alleine, verstehst Du? Und dann legt er eine Kassette ein mit Walfischgesängen, dem Klang der Sonne, wie sie auf tausendjährige Pyramiden trifft und dem Kichern einer Sternschnuppe.
Am Alexanderplatz muß ich aussteigen. Der Busfahrer kann Gedanken lesen. Er findet das gar nicht lustig, was ich von ihm gedacht habe und quetscht mich mit seiner Hydraulik-Tür ein. Das macht folgendes Geräusch: Potlatsch!