Stephan Maus

Ian McEwan: ‘Amsterdam’ (FAZ)

Onkelprosa nach Gutsherrenart. “Amsterdam” von Ian McEwan (FAZ, 13.10.99)

Molly ist tot. Sie wußte, wie man Porcini anbrät, posierte als nackte Eva auf Snookertischen und liebte Männer mit Chauffeur und Obsessionen. Vor der Kapelle des Krematoriums stehen ihr reicher Verlegergatte George Lane und drei ihrer Liebhaber: Der Außenminister Julian Garmony und die zwei besten Freunde Clive Linley und Vernon Halliday, renommierter Komponist der erstere, Chefredakteur eines Qualitätsblattes auf dem Weg zum Boulevard der letztere.

Molly zerfällt zu Asche und mit ihr die feinen englischen Umgangsformen: Nach einer kurzen Betroffenheitsphase, in der in jedem der Hinterbliebenen ein Stück Organ abstirbt, die linke Herzkammer oder die rechte Hirnhälfte, je nachdem, spielen die vier Herren zu einem Quartett des Terrors, Mobbings und der Palastintrige auf. Zum Schluß bleiben zwei der Liebhaber auf der Strecke, und der dritte ist ruiniert. Der gehörnte Ehemann hat endlich die Erinnerung an Molly für sich allein. Nach dem Hinscheiden des ewig Weiblichen dreht das ewig Männliche durch. Ohne Yang muß Ying in die Zwangsjacke, sonst droht kosmischer Amoklauf. Nach Verpuffung der molligen Pufferzone Molly geraten die Männer in einen Kampf aller gegen alle.

Ian McEwan bedient sich in seinem Roman großzügig aus der staubigen Genre-Trickkiste. Er schickt seinen Leser durchs wilde Kurdistan der Zufälligkeiten, unvermuteten Zusammenkünfte und mehr oder weniger überraschenden Kehrtwendungen. In einem dämmrigen Zimmer warten kompromittierende Photos auf ihre Veröffentlichung, ein Brief braucht exakt einen verhängnisvollen Tag zu lange, und in einem operettenhaften letzten Akt schütten sich die beiden ehemals besten Freunde Vernon und Clive gegenseitig ein Pülverchen in den Champagner und unterschreiben im Rausch ihr eigenes Todesurteil, das illico von holländischen Euthanasieärzten vollstreckt wird. In gleichem Maße wie die ehrwürdige Zeitung unter dem Chefredakteur Vernon Halliday vom Boulevardjournalismus bedroht ist, wird McEwans Roman von trivialen Erzählmustern unterlaufen. Das kann man als handwerklich perfektes Ineinandergreifen von Handlungselementen lesen oder als antiquierte dramaturgische Albernheiten.

Gefühle tragen McEwans Personen nur oberhalb der Krawatte. Männer lassen ihre Gesichter zu “Masken der Langmut erstarren”, im Eisbad ihres Willens werden ihre Blicke stahlhart. Jeder verfügt über ein bedienungsfreundliches Schaltpult zur Feinabstimmung seiner Ausdrucksformen: “Gleichzeitig knipste er seinen Charme an.” Die Herzen aber sind verkrustet und tönen hohl. Diese Männer haben ihr Inneres Kind ermordet: “Einen Seufzer des Selbstmitleids versteckte er hinter einem lautstarken Erwachsenenhüsteln.” So kennen wir sie, unsere autistischen Nieten in Nadelstreifen, unsere megalomanen Musen-Machiavellis. Politiker sind auch fies. Charakteristisch für sie ist ein “Huschen der Augen (…), die rastlos Ausschau halten nach neuen Zuhörern oder Abtrünnigen, nach der Nähe einer Persönlichkeit von höherem Rang oder einer anderen wichtigen Gelegenheit, die womöglich ungenutzt verstrich.” Sogar die Künstler gehen für ihren Elfenbeinturm über Elefantenleichen. Der Komponist Linley wird Zeuge eines Vergewaltigungsversuches, wendet sich aber schnell ab, da ihn just im selben Moment die Muse küßt. Schnell muß er die göttliche Melodie niederschreiben, während im Hintergrund die Frauenschreie verklingen.

Inhaltlich und formal ist der Roman nach traditionsbewährter Rezeptur zusammengerührt. McEwan plaudert in altbackenem Parlando vor sich hin. Wirkungen sind “herzerquickend”, Männer werden der Frauen “habhaft”, Ansichten werden “feilgeboten”, oftmals sieht sich jemand “genötigt”, Frauen sind “gerührt”. Onkelprosa nach Gutsherrenart. Wer so schreibt, spielt auch Bridge. Der Textfluß wird nicht von einem einzigen originellen Bild gebremst. Stilistische Höchstleistung ist eine selbstgeschossene Kirmesbuden-Metapher wie diese: “das bunte Drehorgelkarussel seiner durcheinanderwirbelnden Gedanken.”

In dem Portrait des Komponisten Clive Linley spiegelt sich die Ästhetik des Textes wider: “Selbst seine Anhänger mußten, zumindest in den siebziger Jahre, einräumen, daß er “erzkonservativ war (seine Kritiker zogen den Ausdruck ´atavistisch´ vor), aber alle Welt war sich einig, daß Linley so wie Schubert und McCartney eine Melodie komponieren konnte.” Insgesamt geht es McEwans ähnlich wie seinem Komponisten während einer Schaffenskrise: “Nichts stellte sich ein, das eine eigene Gestalt, ein eigenes Gewicht gehabt und ihm jenes Moment der Überraschung geboten hätte, an dem man Originalität erkennt.” Seit Maupassant nichts Neues.

Die langen Passagen über Linleys große Millenniums-Symphonie lesen sich wie Booklet-Prosa der Plattenindustrie. Ungebändigt wogt hier der Klang, brandet wild empor und zerschellt entweder an den Klippen der Stille oder Beethovens Gipsbüste, wer weiß. Insgesamt ist die Musik jedenfalls “von kaskadenhaft polyphoner Brillanz” und immer wieder ein Hörgenuß. Auf der theoretischen Ebene gilt jedoch: “Fürs erste war es Musik, die wundersame Verwandlung von Gedanken in Klänge.” Das ist pure Literatur, jene verblüffende Metamorphose von Humbug in Nonsens.

In der exakten Mitte des Romans erklimmt der Komponist einen Bergkamm in den Highlands und findet in ätherischen Höhen, auf der Wasserscheide des Textes und des Berges, die coelestische Melodie: ein Greif flötet sie ihm vor. Heureka. So hat man sich die Großsymphoniker immer vorgestellt: den klobigen Bergschuh verkantet im Gefels, das absolute Ohr ausgerichtet auf den Schrei des Steinadlers. Hat der Komponist gerade keinen Ortstermin auf dem Olymp, komponiert er inmitten der genialischen Unordnung seiner trutzigen Villa, kauert betrunken über der Tastatur seines Klaviers, in der nachdenklich gerunzelten Stirn fünf Falten, die wie die Notenlinien auf die himmelstürmende Melodie warten. Das Ringen des Künstlers um die reine Form mag ironisch gemeint sein, ist aber nur eine uninspirierte Aneinanderreihung von Klischees. Überhaupt sind McEwans satirische Anstrengungen unbeholfen: “Vernon überlegte, ob er sich nicht doch dazu durchringen sollte, Frank zu entlassen. Was bildete der sich eigentlich ein, einen Ohrring zu tragen?” Das alles ist so bissig wie die dritten Zähne in ihrem Kukident-Bad nachts um halb vier.

McEwan ist ein vorlauter Erzähler. Er läßt nichts offen. Für den Fall, daß der Leser etwas verschlafen hätte, zieht er vorsichtshalber Zwischenbilanz und unterstreicht, was jetzt genau komisch, tragisch und schicksalhaft sein soll: “Dies war das Komische an ihrem Schicksal; eine Eilzustellung wäre den beiden Männern zustatte gekommen. Andererseits gab es für sie vielleicht keinen anderen Ausweg, und darin bestand ihre Tragik.” So adelt man noch den harmlosesten Klamauk zur Tragödie. McEwans gibt den Moralisten, der immer einen Aphorismus parat hat: “Wer über Ungerechtigkeit nachbrütet, dem widerfährt es mitunter, daß sich die Rachegelüste nutzbringend mit Pflichtgefühl verbinden.” Also sprach Zarathustra. Der all- und besserwissende Erzähler kann seinen Mund nicht halten. Keine Erkenntnis ist ihm zu banal, kein Bild zu abgegriffen: “Wir wissen so wenig voneinander. Meistens liegen wir, wie Eisschollen, zum größten Teil unter Wasser, und nur unser sichtbares gesellschaftliches Ich ragt kühl und weiß hervor.” Psychologie mit Käpt´n Iglu. Der Leser hat maximal einen Gedankenstrich Zeit, selbst nachzudenken: “Als nächstes empfand er eine schwere Verantwortung - oder war es Macht?”

Wie böse die Mediensatire geraten ist, kann man an den Reaktionen der karikierten Presse ablesen. Eine Werbe-Banderole bepinselt dem Buch den Bauch: “Brillant” The New York Times, “Wunderbar lesbar” The Times, “Packend” The Sunday Telegraph, “Meisterhaft” Sunday Times. Auch das Portrait des Kulturbetriebs hat Gefallen gefunden: “Amsterdam” erhielt 1998 den Booker-Preis. Von Ian McEwan gibt es zehn Bücher auf deutsch. Drei davon sind verfilmt worden. Auch dieser Roman hat nichts zu bieten, was ein Film nicht ebenso gut oder besser könnte.


Ian McEwan: Amsterdam. Roman, Diogenes Verlag, Zürich, 1999, 224 S., 36,90 DM