Stephan Maus

Michel de Montaigne: ‘Essais’ (taz)

Chaos-Bibliothek. Michel de Montaigne: “Essais” (taz, 15.10.99)

Michel Eyquem de Montaignes Hals steckt auf allen Portraits in einer Halskrause, und man wäre schon ein ganzes Stück weiter, könnte man diese in all ihrer Luftigkeit beschreiben. Zu seinem Kopf gibt es nur eins zu sagen: es ist ein wohlgeformter, kieselrund geschliffen von Gedankenflut.

Michel Eyquem wird 1533 geboren. Seine Familie ist erst seit zwei Generationen adelig und ansonsten reich durch den Handel mit Wein und gesalzenem Fisch. Eine Amme aus dem Volk stillt das Kind, ein deutscher Hauslehrer spricht ausschließlich Latein mit dem Heranwachsenden, der junge Mann studiert Jura. Der Erwachsene übt Ämter am Gericht von Périgueux und im Parlament von Bordeaux aus. Mit 38 Jahren zieht er sich in seine Bibliothek im Schloßturm zurück, auf deren Mauern er in Latein seinen Abschied von der Welt verkündet: Er müsse nun denken & schreiben, auf Wiedersehen.

Er läßt eine Medaille prägen, auf der eine Waage mit ausbalancierten Schalen zu sehen ist; dazu die Devise: „Was weiß ich?“ Der Mann ist Skeptiker, in dem Satz „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ steckt ihm noch zu viel Wissen. 1580 werden die ersten beiden Bände seiner „Essais“ veröffentlicht. Montaigne wird zum Bürgermeister von Bordeaux gewählt, was ihn nicht daran hindert, 1582 eine erweiterte und überarbeitete Ausgabe seiner „Essais“ herauszugeben. 1588 werden die „Essais“ noch einmal überarbeitet und um einen dritten Band ergänzt, 1595 erscheint posthum eine nochmals überarbeitete Ausgabe, fertig ist die Sachertorte, die aus vier Textschichten besteht.

Nun kann man Montaigne als einen beeindruckenden Lebenskünstler lesen, einen Gentilhomme mit verblüffender Menschenkenntnis, der immer eine Binsenweisheit für den geistreichen Honnête Homme parat hat; als einen Moralisten, der zu allem und jedem was zu sagen hat, uns den Reichtum des Lebens, die Vielfalt der Charaktere und die verblüffende Scheckigkeit eines Berberteppichs zeigt und außerdem irgendwie noch ein Vorläufer der Moderne ist, die wahrscheinlich eh mit dem Neandertaler angefangen hat. Dann trinkt man mit einem wohltemperierten Bordeaux Brüderschaft mit dem alten Original. Montaigne, unser Zeitgenosse. Mein Freund, der Baum. So ein Kerl! Von dem können wir noch was lernen! Das führt dann zur Komplettverkitschung. Man wundert sich, daß der Mann vor 400 Jahren schon so einiges gewußt hat. Und wenn wir nur genau genug hinschauen, finden wir sicher auch noch was über die Bedrohung der Wale, die lustigen Muster in englischen Kornfeldern und den Untergang des Vielvölkerstaates Jugoslawien. Vielleicht wußte der alte Knochen sogar noch viel mehr als wir! Irgendwie, durch Eingabe einer bestimmten Zirbeldrüse, durch ein mystisches Pulsieren des Zwerchfells, eine absonderliche Absonderung seiner Gallenblase…

So liest man auch den Pestarzt Nostradamus, ein Zeitgenosse Montaignes. All das beruht auf dem Mythos, gute Literatur müsse immer was zu bieten haben an Wissenswertem über Erlangen. Bzw. ist erst wirklich spannend, wenn sie dem örtlichen Telefonbuch ähnelt, also so richtig praktisch ist. Das unmodernste Argument für klassische Literatur ist jedoch das ihrer vermeintlichen Modernität. Montaigne hat uns auch heute noch so viel zu sagen. Sicher, hat meine Oma auch; und all die Trittbrettfahrer, die sich an den Gascogner schmeißen, weil sie auch noch was über Freundschaft, Ruhmessucht und Eitelkeit zu berichten haben.

Man kann jedoch Montaigne auch als einen Autor lesen, der den Formen seiner Zeit eine besonders originelle hinzugefügt hat. Die Religionskriege hatten am Ende des 16. Jahrhunderts die Hoffnungen des Renaissance-Humanismus zerstört. Dörfer und Weltbilder lagen in Trümmern. Wie soll man in so einer krummen Welt noch gerade schreiben? Montaigne schreibt in der Tradition des Textkommentars, der optimistisch eine humanistische Gelehrsamkeit verbreitete. Dieser Tradition gibt er ein neues Gesicht. Er sammelt mit Leidenschaft widersprüchliches Material, merkwürdige Bräuche, komische Traditionen, absonderliche Meinungen und macht daraus eine Collage, aus der die Lust an Verwirrung, Widerspruch und mobilem Sinn spricht. Er erfindet die Gattung Essai, stellt einen 100-Seiten-Text neben einen von nur einer halben Seite und veranstaltet ein frohes Durcheinander. Die antiken Klassiker sind nicht mehr verbindliche Autorität, sondern Rohstoff, der namenlos nebeneinander steht und zu Neuem vermischt wird.

Die „Essais“ werden zur Chaos-Bibliothek. Eine Bibliothek der Klassiker, der Alltäglichkeiten, des Unsinns, der hohen und der niederen Themen. Anekdoten, Erzählungen, Übersetzungen, Traktate, antike Texte im O-Ton, Sentenzen, Aphorismen: alle Formen stehen nebeneinander. Der Mix wird nur noch zusammengehalten von dem lesenden, denkenden und fühlenden Michel de Montaigne. Der ehemalige Parlamentsrat ist die letzte Instanz: „Car c´est moy que je peins.“ (Denn mich selbst portraitiere ich.)

Erstaunlich, dieser Spezialkleber: „Philosophieren heißt sterben lernen“, „Als Kroisos an der Stadt Sardeis entlang zog, sah er auf den Weiden eine große Menge Schlangen, die von den Pferden seines Heeres mit Begierde gefressen wurden“, „In Sparta schließlich strafte der Lehrer die Kinder, indem er sie in den Daumen biß.“ Ja. Einmal kräftig ziehen, und: hält! Alles in einem Buch. Diese Kompilation ist dann auch gleich eine richtige Autobiographie, und zwischen Virgil, Ovid und Cicero steht, wie´s der Schloßherr so hält mit dem Alkohol, dem Schlafen, dem Lesen… Bei all dem sagt Montaigne hier mal Hü, da mal Hott, und interessant ist vor allem der Galopp in seiner Bewegung, seinen Kehrtwenden, Volten und Pirouetten. Wie gerät eine Verteidigung zur Anklage, ein Lob zum Tadel?

Reizvoll sind die „Essais“ in ihrer Gesamtheit, ihrer riesigen Spannweite, mit ihrer Füllhorn-Ästhetik. Man möchte nicht nur einzelne Perlen serviert bekommen, unter dem Vorwand, das sei jetzt eine besonders gültige Erkenntnis. Ein Montaigne-Brevier bedient das „Ach-das-hat-er-aber-schön-gesagt“-Publikum. Die letzte Gesamtübersetzung stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. So hört sie sich auch an. Im 19. Jahrhundert hat man das maßgebende „Exemplaire de Bordeaux“ gefunden, und Literaturwissenschaft und Hermeneutik sind auch keine Kegelclubs, sondern machen Fortschritte.

Die „erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett“ trägt all dem Rechenschaft und ist sehr gut. 20 Jahre hat Montaigne an seinen „Essais“ geschrieben. 10 Jahre hat Stilett an seiner Übersetzung gearbeitet. Und freut sich heute zurecht, daß Montaigne endlich auch im deutschen Sprachraum sein Stilett gefunden hat, mit dem er in die Ballons der Verblasenheit stechen kann. Stilett hat sich dazu entschieden, „Montaigne pur“ zu liefern: Die „Essais“ sind unglossiert, erscheinen ohne Fußnoten. Die unzähligen lateinischen Zitate sind in gereimter, rhythmisierter Form übersetzt, und was eigentlich ein aus mehreren Schichten zusammengesetzter Text ist, tritt als monolithischer Block auf. Nichts bremst den Lesefluß, was wohl Montaignes Temperament gerecht wird: „Stoße ich beim Lesen auf Schwierigkeiten, zernage ich mir denn auch nicht die Nägel hierüber, sondern lasse die Sache, nachdem ich sie zwei-, dreimal vergeblich angegangen bin, auf sich beruhen. Wollte ich mich damit aufhalten, würde ich mich verlieren - und meine Zeite obendrein; denn mein Geist lebt vom ersten Zugriff: Was sich mir nicht auf Anhieb erschließt, tut es um so weniger, je mehr ich mich hineinbohre.“ (II, 10)

Stiletts Übersetzung ermöglicht den schnellen, ersten Zugriff. Wer sich in den Text hineinbohren will, muß auf einen Kommentar- und Materialband warten, der voraussichtlich in zwei Jahren erscheint. Man hätte sich allerdings wenigstens dazu entschließen können, die verschiedenen Schichten des Textes zu kennzeichnen. Zum Beispiel wie in der französischen. GF-Flammarion Taschenbuchausgabe, in der jede Textebene mit Strichen versehen ist: 1580 = /, 1588 = // und 1595 = ///. Das sieht nicht allzu häßlich aus und zeigt, wie der Text arbeitet und gearbeitet wurde. Wenn man´s schon mal weiß, warum nicht auch gleich sagen.

Aber nörgeln ist einfach: Stiletts Übersetzung ist traumwandlerisch trittfest. Ich habe ihn bei keinem Absturz überrascht. Man kann sich beruhigt von ihm an die Hand nehmen und sich über die steilen Pässe des Montaigne-Massivs führen lassen. Die Übersetzung wird der Schroffheit des Originals gerecht. „Mundgerecht habe ich es nicht versucht zu machen“, sagt Stilett. Sein Ton ist einheitlich, es gibt keine aus der Reihe tanzenden Modewörter und keine bucklicht atavistischen Manierismen. Stil und Stilett unterscheiden sich im Französische nur durch einen Buchstaben.

Der Eichborn Verlag und der Typograph Franz Greno haben eine schmucke Ausgabe gestaltet, die nach den vielbeschworenen langen herbstlichen Kaminabenden, nach knarzendem Sessel und massivem Lesepult aussieht. Wer jetzt keinen Montaigne hat… Grenos Schriftbild ist ein bequemes Gedankenbett. Nimmt der Leser das Buch in die Hand, wird er bald das angenehme Kitzeln einer luftigen Halskrause unter´m Kinn spüren. Im Schloßturm riecht es angenehm nach altem Papier, Ledereinbänden und feuchtem Stein; man blättert vorsichtig um und beschließt, auf die dicken Mauern zu schreiben: Sorry, aber ich muß nun lesen, denken und schreiben, auf Wiedersehen. Die drei Essais-Bände sind in einem zweispaltig gesetzten Quart-Band zusammengefaßt, ein Format, das jeder kennt, der damals den DIERCKE WELTATLAS geklaut hat.


Michel de Montaigne: Essais, Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Eichborn Verlag, Frankfurt 1998, Leinen, 640 Seiten, 98 DM