Hier kocht König Blaubart persönlich. Wie man das Erdinnere löscht: Luc Langs Roman “1600 Bäuche” (FAZ, 16.10.1999)
Henry Blain ist Gefängniskoch, leidenschaftlicher Shakespeare-Leser und Erotomane. Die Grundrezeptur seiner Psyche ist eine elisabethanische Legierung aus Machtgier und Monomanie. Im Bauch des sternförmig angeordneten Gefängnisses von Strangeways bei Manchester steht der Minotaurus Blain an den Öfen und macht schön, meist jedoch schlecht Wetter in den 1600 Bäuchen der Insassen. Fühlt er sich in seinem Stolz verletzt, gibt es Schwer- bis Unverdauliches.
Blain fühlt sich oft in seinem Stolz verletzt, und seine gastrisch verheerende Rezeptsammlung ist groß. Der Sechzigjährige liebt die Frauen. Aber er verliert auch leicht die Geduld mit ihnen. Dann bringt er sie um und vergräbt sie im Garten unter einem schönen Granatapfelbaum. Seine Beete pflegt Blain so manisch wie Lady Macbeth ihre Hände. Aber auch der leicht hysterische Waschzwang ist ihm nicht fremd: „Ich feuchte alles ein wenig an, ich reibe, wasche aus, so, das war´s, alles sauber, ich gebe mich liebenswürdig.“ In nächtlichen Fieberträumen suchen ihn manchmal die mondbleichen Geister seiner Opfer heim. Ansonsten lebt sich´s ausgezeichnet.
Henry Blain ist ein Mann des Theaters und sieht sich in der Rolle des Regisseurs und Dirigenten: Sein Küchenteam leitet er wie ein Kammerspielensemble, die Eingeweide der Gefangenen bespielt er wie ein Instrument: „ich spiele mit den Bäuchen und Därmen wie auf der großen Orgel von Saint-Paul´s.“ Mit rabelaisscher Liebe zum Organischen berauscht er sich an einer fast schon mystischen Allmacht: „Was ich, Chefkoch von Strangeways, weiß, ist, daß ich mittels der Macht, die ich in meiner kleinen Stadt der Verdammten über die Gedärme besitze, auch die Allmacht über die Luft, den Zustand der Stoffe und des Fleisches, die Geisteshaltung und die Gemütsverfassung und nicht zuletzt über das Funktionieren der Rohrleitungen, aller Rohrleitungen, die der Bäuche und die des Gebäudes, innehabe.“
Als es zu einem Aufstand im Strangeways-Gefängnis kommt, wird Blain vorerst von seiner Bühne verdammt. Nun bekommen die Insassen ihren großen Auftritt. Sie besetzen die Strafanstalt, die schnell zu einer Renaissance-Festung wird, liefern sich Schlachten mit der Polizei und geben auf dem Gefängnisdach ein mehrwöchiges Spektakel gegen Machtmißbrauch, schlechtes Essen und für Gerechtigkeit. Die rußigen Dachlatten werden zu einer Bühne für tragische Tiraden, Rührstücke, Clownerien und Akrobatikeinlagen. Die Fernsehkameras übertragen Shakespeare live. Wie Schuldzuweisungen werfen die Aufständischen das Gefängnismobiliar in Blains angrenzenden Garten, auf das Sammelgrab seiner Opfer. Doch der Koch bleibt nicht lange im Hintergrund, schiebt die Schuldzuweisung „Folterkoch“ von sich, deckt Verwaltungsskandale auf, hält in einem gestreiften Morgenmantel Hof wie Richard III., schürt die Revolte und balanciert bei all dem auf dem schmalen First zwischen rasendem Wahnsinn und machiavellistischem Fingerspitzengefühl. Zur Erholung liest er das Splatterdrama Titus Andronicus und findet noch Zeit, eine weitere Geliebte umzubringen. Die Nächste hat schon eine Einladung zum Essen angenommen. Hier kocht König Blaubart persönlich.
Frauen. Alles Flittchen, außer Mutti. „Wenn ich allein bin, halte ich mich immer für intelligent, in der Gegenwart von Frauen dagegen fühle ich mich plötzlich dumm und bedroht.“ Anleihen aus Hitchcocks Psycho schimmern durch Luc Langs Text. Blains einziges Gesetz ist das Urteil seiner Mutter: „Mama hat die ganze Familienautorität wie eine Essenz in sich konzentriert.“ Deren Wohnungsdekoration stammt direkt aus dem Einrichtungshaus Ödipus & Söhne: „Die ausgestopften Vögel, die überall an den Wänden hingen, werfen alptraumartige Schatten, aber sie möchte nichts verändern. Mein Vater war ein bekannter Tierpräparator, und als ihm ein Geschoß an einem der französischen Strände bei der Invasion der Alliierten den Kopf weggerissen hatte, behielt sie die schönsten Vögel aus seiner Werkstatt und schmückte damit alle Räume, so daß einem, wenn man auf dem Klo sitzt, ein Uhu mit seinen großen, gelben Augen anstarrt.“ Dieser Uhu hing vorher in Anthony Perkins Wohnzimmer.
Verbrecher mit Bildung sind fesselnde Erzähler. Die Paranoia und das Schuldbewußtsein des Gefängniskoches verleihen ihm einen atemlosen Stil. Er ist gehetzt, immer ein bißchen überreizt und droht jeden Moment überzukochen. Ein schmaler Pfad verläuft zwischen dem Gefängnis und seinem Eigenheim und symbolisiert Blains Borderline. Ein Leben zwischen Idylle und Kerkerdrama. So ein Mann hat nicht viel Zeit für Punkte. Er wirft schnell ein paar Kommas als Ballast ab, aber dann muß er auch schon weiter. Braut sich ein cholerisches Gewitter zusammen, zucken hier und da einige Ausrufezeichen über den Texthorizont. Nabokovs Humbert Humbert hatte vorgewarnt: „Bei einem Mörder können Sie immer auf einen extravaganten Prosastil zählen.“ Henry Blain bestätigt diese Maxime: „mein Herz verkrampfte sich wie ein in heißes Wasser geworfener Hummer.“ Blain war Koch auf internationalen Handelsschiffen, und auch so etwas ist stilprägend: „sein Kropf zittert wie Götterspeise im Maschinenraum eines alten Frachtschiffes.“ Heute wohnen die gezähmten Meeresungeheuer im Champagnerglas: „sie starrte auf den Grund ihres Glases, als würde sie dort leuchtende Quallenschwärme ausmachen.“ Oder im eigenen Kopf: „mein Kopf fühlte sich an wie mit tausend Seeigeln tapeziert.“ Blain fühlt sich immer noch wie „ein Seemann (…), der jeden Morgen wieder an Bord geht, um in tintenblauen und unterirdischen Gewässern hart am teuflischen Wind zu fahren.“
Luc Langs Roman verfügt über die dramaturgische Geschlossenheit eines klassischen Theaterstückes. Die Zeit der Handlung ist leicht überschaubar. Die Handlungsorte beschränken sich auf wenige, meist theatralisch codierte Szenerien: Gefängnis, Terrasse, Garten, Pub. Luc Langs Humor ist so schwarz wie Henry Blains Seele. Die Bilderwelt des Textes ist sehr kohärent: zum Beispiel quakt kurz nach der Erdrosselung einer Geliebten eine Autohupe „wie eine Ente, der man den Hals umdreht.“ Das Dekor ist ein überraschendes Nebeneinander von elisabethanischer Theaterkulisse mit schwitzenden Kerkermauern, lodernden Dachfirsten und uneinnehmbaren Festungstürmen einerseits und andererseits dem stimmigen Portrait einer jener englischen Vorstädte, in denen man „in der Regel wahlweise neben einem Friedhof, einem Gefängnis oder einem heruntergekommenen Pflegeheim lande(t)“, wo dann der Nachbar „die Blasenentzündung seines Foxterriers (…) Gassi führt.“ Geschickt flicht der Autor Zitate und Motive aus Shakespeares Werken in seinen Text, der in einer parodierenden Zitat-Montage aus „Macbeth“ ausklingt. Die grotesk-kosmischen Überhöhungen des menschlichen Verdauungsapparates und die Faszination für die schwarzen, schwarzen Gallensäfte erinnern an Shakespeares Zeitgenossen Rabelais: „Werden wir nicht durch die Abführung unseres Darminhalts in das Innere der Erde eines Tages ihren glühenden Kern löschen?“
Seinen größten Auftritt bekommt Henry Blain als Erzähler seiner Abenteuer. Der „Herr über 30 Öfen, 20 Spülbecken, 12 Fleischkühlschränke (und) 18 Küchenhilfen“ tritt aus den Kulissen, löst sich aus der Menge des Dienstpersonals und steigt zum allmächtigen Vollzugsberechtigten auf: im Schnellverfahren nimmt er seine Leser gefangen. Alle. Es werden mehr als 1600 sein. Aber diesmal ist die Kost ausgezeichnet. Es gibt nicht den geringsten Grund zur Revolte.
Luc Lang: 1600 Bäuche. Roman, Aus dem Französischen von Bernd Wilzek, Verlag Antje Kunstmann, München 1999, 248 S., XX,YY DM