Pandämonium mit Anhängerkupplung. Toni Davidsons Romandebüt “Dr. Sad” (FAZ, 25.09.00)
Dr. Curtis Sad leitet eine kleine Therapie-Gruppe in der psychiatrischen Klinik Breathhouse, Schottland. Die klassischen Behandlungsmethoden seiner “Hirnklempner”-Kollegen und ihr akademisches Psychogeschwätz verachtet er, seine alltäglichen “Kaputtniks”, Otto und Ottilie Normalverbraucher mit ihren unspektakulären psychotischen Wehwehchen, langweilen ihn, die kahlen Wände seines Sprechzimmers und die schlabbrigen Styroporbecher aus dem Kaffeeautomaten sind nur zu deprimierend. Per Fax korrespondiert er mit seinem amerikanischen Kollegen und Seelenbruder Dr. Wayne Peterson. Die ganze Arbeitswoche über sehnen sich die beiden Avantgarde-Therapeuten nach dem Grandiosen, es dürstet sie nach Pioniertaten auf ihrem Fachgebiet der psychosexuellen Forschung. Am Wochenende entspannt sich Dr. Sad bei erotischen Jugenderinnerungen und verzehrt sich nach den obsessiven Bildern seiner kleinen Schwester Josie, die er als Heranwachsender einsperrte, bedrängte und mißbrauchte.
Dr. Sad tritt als verständnisvoller Weißkittel auf, unter dem sich ein gefährlicher Mad Professor verbirgt. Als die Sozialhelfer eines Tages die sexuell mißbrauchten Jungen Click und Fright in der Klinik abladen, sieht der megalomane Dr. Sad die einmalige Chance gekommen, seine Forschungen ungestört ein ordentliches Stück voranzutreiben. In einer riesigen Backsteinhalle am Rande der Klinik zelebriert er mit Click und Fright seine persönliche Milieutherapie. In einer kurpfuscherischen Theaterinszenierung mit Trockeneisnebel, blinkenden Lichterketten und suggestiver Soundkulisse versucht er, die beiden mit der Atmosphäre ihrer Vergangenheit zu konfrontieren. Vielleicht werden die Patienten ja gesund, aber vor allem möchte der Forscher jetzt erst mal experimentieren.
Links wird Click einquartiert, rechts Fright, durch die Mitte der Halle verläuft ein doppelter Vorhang mit Sehschlitzen, durch die Curtis seine beiden Patienten beobachtet. Doch auch durch Curtis selbst geht ein Curtain. Die Bilder seiner kleinen Schwester beherrschen ihn immer mehr, verselbständigen sich und versperren ihm die Sicht auf die Realität. Er ist Grenzgänger zwischen Wahn und Wirklichkeit, segelt immer ganz hart borderline, bis ihm am Ende sein ganzer Therapie-Klamauk aus dem Ruder gerät und ihm Mastbaum, Ruderpinne, Vorhangsegeltuch und Lichterkette um die Ohren schlagen.
Währenddessen in Alaska: Psycho-Pionier Dr. Peterson hat seinem Patienten Languid einen Acid-Trip eingeworfen, hat selbst einen halben genommen und muß nun im Drogenrausch gelähmt mit ansehen, wie sein ehemals lethargischer Patient eine therapeutische Blockhütte zerlegt und in psychedelische Flammen aufgehen läßt. Die Avantgarde der Psychologie findet sich im lodernden und blinkenden Finale hilflos in den Händen ihrer Patienten wieder.
Das Schlüsselmotiv von Davidsons Roman ist der Vorhang. Fright muß seine Nächte neben einem Vorhang mit ironischem Blumenaufdruck verbringen, der ihn von einer grauenhaften Tabuzone trennt, in der ihn sein Vater regelmäßig zusammen mit seinem Liebhaber in teuflischen Ritualen mißbraucht. Dr. Curtis Sads Schwester Josie trug als Kind ein Kleid mit Blumenmuster, und Sads Forscherehrgeiz entzündete sich an diesem Vorhang, den es als erstes, als allererstes zu lüften galt. Click reagiert auf das unverständliche Grauen, indem er exemplarische Szenen aus seinem Familiendrama fotografiert: “Sie packte mich und zog mir Hemd und Unterhemd aus, riß mir Hose und Unterhose herunter, warf alles auf einen Haufen in der Kochnische. Jetzt waren wir alle nackt, dachte ich. Ein tolles Familienfoto.” Er schiebt den Verschlußvorhang seiner Instamatic-Kamera zwischen sich und die Realität. Click ist ein Paparazzo seines eigenen Unglücks.
Der Roman ist aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Davidson verleiht jeder Erzählstimme einen unverwechselbaren Ton. Die ersten beiden Kapitel schildern den sexuellen Mißbrauch aus der Perspektive der Opfer Click und Fright. Click wird von seinen Eltern Panic und Exit in einem Wohnwagen von Tatort zu Tatort gekarrt, “Panic in Weißknöchelhaltung, die Hände immer eisern ums Lenkrad geklammert”, eine hysterisch schaukelnde Odyssee wie aus der Blue Box, durchzogen von Urszenen und Gewalt, all drei immer dicht an dicht, “unsere Nasen beinahe im Wettstreit um dasselbe bißchen Sauerstoff.” Vater Panic mißbraucht ihn, Mutter Exit reagiert mit Waschzwang und versucht nach jedem pädophilen Vergehen ihres Mannes, Click wieder porentief rein zu bürsten, um anschließend in brütende Lethargie zu versinken, “den Kopf voller Vitriol, die Ohren ein Überdruckventil, aus dem Dampf entwich.” Auch im Kopf des Vaters herrscht Hochdruck, der sich in einem monströsen Geschwür am Hinterkopf seinen Weg bahnt. Später in der Klinik beschreibt Click die Fotos aus seiner Kindheit und die gespeicherten Erinnerungsbilder in seiner “Kopfkamera”, ein Puzzle, das er niemals wird zusammenfügen können. Sein Stil ist visuell und von halluzinogener Präzision: “Wenn ich nicht gesehen hätte, wie meine Mutter an den langen schwarzen Haaren meines Vaters zerrte und sie dann von der Hand abschüttelte wie die Überreste eines toten Nagetiers, wäre es mir vielleicht gut gegangen.” Sein Kapitel wird getragen von einem fiebrigen Rhythmus und ist das intensivste des Romans.
Frights Bericht wird als eine Tonbandabschrift präsentiert. Seine Erzählung ist geprägt von der Spontaneität der direkten Rede. Auch er schildert bedrückende Kammerspiele der Gewalt. Die Opfer werden in die Enge getrieben, drücken sich Schutz suchend gegen Wände, verbeißen sich schluckend und würgend in ihre Kopfkissen, werden unter von Motorenabwärme noch knackende Autos gedrängt, dem Leser vergeht der Atem. Doch in der Breathhouse-Klinik atmet man nicht freier. Vor dem Hintergrund dieser beiden Zeugnisse wirken Dr. Sads selbstgefällig erzählten Experimente und windige Theorien um so perverser. Sad mißbraucht seine Patienten ebenso, wie er seine Schwester mißbraucht hat. Fright und Click kommen vom Regen in die Traufe. Die Hölle hat keinen Notausgang.
Davidsons Roman setzt sich aus verschiedenen fiktionalen Textsorten zusammen: Präzise Beschreibungen von Fotos oder Erinnerungsbildern, Abschriften von Tonbandaufnahmen, großmäulige Therapeuten-Faxe, klassische Erzählpassagen und Protokolle von psychiatrischen Sitzungen. Souverän komponiert Davidson eine Polyphonie von Wahn und Leid ohne Pathos oder Voyeurismus. Nicht ein einziges Mal stimmt er die so naheliegende Sind-so-kleine-Hände-Melodie an. Mit schwarzem Humor läßt er das Drama hin und wieder in eine Farce umkippen. Seine Figuren sind durch ihre Sprache präsent, ihre Wahrnehmung werden detailgenau in Szene gesetzt. “Dr Sad” ist eine Tragödie der Psychiatrie. Der Himmel über Breathhouse ist leer. Hier fliegt keiner mehr übers Kuckucksnest.
Toni Davidson: Dr. Sad. Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000, 333 S., geb., XX,YY DM