Ich hatte einen Tintenpalast in Afrika - Olaf Müllers afrikanische Impressionen: “Tintenpalast” (FR, 18.10.00)
Die junge deutsche Literatur hat ihren Weltempfänger auf 1350 kHz Fernweh getunet. Marcus Braun schreibt von Indien, Michael Roes aus Arabien und Nordamerika, Christian Kracht neuerdings aus Asien und Olaf Müller jetzt von Afrika.
In Henry Magdaleni wütet Pubertät und Existenzverdruß. Die Welt ist ihm zu klein, vor allem aber sein Heimatdorf Blubars in der ehemaligen DDR. Der Angry Young Man sucht das Abenteuer und findet es als Stasi-Spitzel. Ihm ist dabei nietzeanisch zumute. Nihilist ist er sowieso. Und da dem Mann auch entschieden nach Bohème ist, bugsiert er seine vermeintlich geheimnisumwitterte Gestalt durch die Hinterhof-Szene des Prenzlauer Berges. Vor allem aber schreibt er. Neben seinen IM-Berichten entwirft sich Magdaleni eine Gegenwelt, die er in einem Konvolut festhält, seinem „Tintenpalast.“
Im Elfenbeinturm dieser Fluchtburg für Tagträumereien und lyrisch Hochambitiöses überhöht er seine pubertären Machtgelüste und später auch seinen Stasi-Alltag, um seiner Existenz eine mythische Dimension zu verleihen. Der Titel klingt nach schief geschnittenem Gänsefederkiel, der so sehr über handgeschöpftes Büttenpapier kratzt, dass man Gänsehaut bekommt. Aber dieser poetisierende Tintenpalast hat auch ein handfestes architektonisches Gegenstück in der Wirklichkeit. In der Hauptstadt von Namibia, Windhoek, steht der Regierungspalast der ehemaligen deutschen Kolonialregierung, der im Volksmund „Tintenpalast“ heißt, in Anspielung auf die Amtsschreiber, die dort in der Verwaltung beschäftigt waren. So trägt sogar die Utopie von IM Henry das Stigma tyrannischer Bürokratie. Im Elfenbeinturm hört man das Quietschen der Hängeregister und das konspirative Rascheln der Akten.
Bei Zusammenbruch der DDR flüchtet Magdaleni Richtung Tintenpalast, Namibia, im Gepäck einzig seine Kladde. Jenseits vom Gauckpalast. Schnell aber hat Henry seine Vergangenheit in der Person von Simon Sanges auf den Fersen, der Magdalenis lodernd-magnetisierendem Blick schon in Ost-Berlin erlegen ist, von ihm aber enttäuscht wurde und des weiteren mit einem Auftrag eines Opfers von Henrys Stasi-Machenschaften ausgestattet ist. Worin genau dieser Auftrag besteht, bleibt im Dunklen. Es geht um Verrat und verletzte Mannesehre. Müller hält seinen Plot abstrakt und wirft über jegliche psychologische Motivation den dichten namibischen Küstennebel und einen kafkaesken Schleier voller dunkler Andeutungen. Man weiß hier nichts Genaues, was scheinbar zum Konzept einer existenziellen Paranoia gehört, die alles infiltriert wie der Wüstensand.
Zwei Männer schickt Müller in die Wüste. Hier wollen sie sich selbst finden, sollen aber auch zueinander finden. Auf ihr Leben haben sie eine geheimdienstliche Perspektive und sehen sich in undurchsichtiger Mission. Sie betrinken sich in Wellblechhütten mit Wodka, frisieren ihre Lebensbilanz, vögeln in feuchter Matratzengruft bei Swakopmund einheimische Huren, übergeben sich bei 40 Grad im Schatten auf den gestampften Lehmboden und werden von so grässlichem Darmrumoren heimgesucht wie der Heilige Antonius 300 Jahre vor seiner Kanonisierung. So geht´s zu am Äquator unserer Verzweiflung, dort, wo sie am schmerbäuchigsten ist. „Um die Erinnerungen zu verbrennen, ist es indessen nicht heiß genug.“ Aber nicht überall ist Verheerung. So kann ein Exil-Schotte ganz wunderbar auf einer alten Orgel spielen: „Auf einem heruntergekommenen Campingplatz auf dem zwanzigsten Breitengrad südlich des Äquators sitzt ein riesiger Mann mit einem vernarbten Gesicht und spielt für ihn.“ Bach. Der narbige Highlander muß der Voodoo-Wiedergänger Albert Schweitzers sein.
Abwechselnd fallen Henry und Simon in narkoleptische Trance und verabschieden sich für zwei, drei sandgestrahlte Alpdrücke aus der Gegenwart. Sobald Henry dann wieder aufwacht, transferiert er seine kryptischen Traumgesichter in Form von Parabeln, Allegorien oder Aphorismen in seinen „Tintenpalast“. Der von Olaf Müller wird dadurch nicht lesbarer. In euphorischem Schaffensrausch hockt Henry Magdaleni in der Weitschweifigkeit der Wüste Namib und balanciert seine brüchige Kladde auf den Knien, während in der Ferne der hitzeunempfindliche Webervogel äugt. Am Horizont flirren die Luftspiegelungen und IM Magdaleni thematisiert für uns den Schreibprozeß. Letzteren erhebt Müller in romantischer Tradition beinahe zum Voodoo-Kult.
Selbst, wenn der altehrwürdige Namibianer in seiner Hütte zum Zeichenstift greift und ungelenk Tierbilder malt, geht es um die vergangenheitsträchtige Leberwurst: „Das ist unsere Geschichte. Ich habe sie zusammengetragen. Früher wurde sie nur weitererzählt, immer vom Vater auf den Sohn.“ So viel Geschichte war nie. Oral, piktural, skriptural. Man ist dankbar, wenn in diesem Roman mal ein Analphabet hinter dem Kameldornbaum hervortritt. Die Dialoge aller Personen lesen sich wie das Protokoll einer Gesprächstherapie: „Die Luft schmeckt heute abend anders. Ich bilde mir das nicht ein. Sie schmeckt nach Veränderung … Du fährst nicht weg von hier, ohne gefunden zu haben, wonach du suchst.“ Im Äonen alten Hallraum der Wüste klingt noch die banalste Floskel seinsgründig.
Die grüblerischen Helden sind unterwegs auf einer organisierten Camel-Trophy mit Selbsterfahrungsgarantie. Deutsche Nomaden auf Alptraumpfaden durch Namibia. Sie absolvieren eine therapeutische Schnitzeljagd. Dem einen drückt sich im karstigen Geröll penetrante heideggersche Geworfenheit durch den Hosenboden in den Steiß, der andere findet im Hinterzimmer eines Tante-Emma-Ladens eine Kalaschnikoff, die fürderhin für Spannung sorgt. Magdaleni darf nicht sterben! Doch wer wollte nicht schon einmal knatternde Maschinengewehrsalven in die Sanddünen der Namib-Wüste feuern, dass es zerriebenes Urgestein gen Kosmos spritzt? Das Programm ist nicht Club Méditerrannée, sondern machistischer Initiationsritus Paris-Dakar; das ist kein Tintenpalast, sondern eine halluzinogene Schwitzhütte.
Warum muß Henry Magdaleni seine Stasi-Akten im Feuer der Wüstenrosenblüte verbrennen? Warum wird zehn Jahre nach Mauerfall der oftmals eingeklagte Nachwenderoman auf ehemaligem deutschen Kolonialterritorium angesiedelt? War Bruce Chatwin auch ein Berliner? Warum müssen diese seelenvernarbten Männer ihre deutsche Vergangenheit im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika aufarbeiten, dabei wie Skorpione umeinander tanzen und mit russischen Schnellfeuergewehren ins Auge eines Sandorkans ballern? Weil ihre Biographie „verwüstet“ ist, wie der Klappentext kalauert? Weil schon Arthur Rimbaud und Ernst Jünger den schwarzen Kontinent für die dreitagebärtige Bohème kartographiert haben? Oder einfach nur, weil Swakopmund einen weitaus erhabeneren Prosadekor hergibt als Schwäbisch-Gmünd?
Die Kulissen seiner Handlung weiß Müller tatsächlich überzeugend zu zeichnen. Seien es stockfleckigen Treppenhäusern Ost-Berlins oder der Horizont des afrikanischen Hochlands: „Wie verdunkelte, überreife Früchte sitzen die Silhouetten der Affenkörper auf den blattlosen Ästen oben auf dem Kamm der Hügel.“ Aber schon im nächsten Satz überhöht er seine zoologische Visionen ins Orakelnd-Kosmologische: “Schwarze Sterne, gefangen im trockenen Geäst, erdnah, kaum abwendbares Unheil.“ Es geht um Paviane. Selbst das Gefleuch wird zur ontologischen Chiffre: „An der Windschutzscheibe trommelt das Insekt. Eine afrikanische Irrfliege will aus dem Wagen heraus. Aber das Glas bricht nicht. Die Wilde wird nicht entkommen.“
Vokabular und Syntax sind von hochtrabender Antiquiertheit und zeremonienhafter Gestelztheit, als stammten sie noch aus den Amtsstuben der ehemaligen Kolonialmacht: “Den auslöschenden Prozessen setzt er nicht nur keinen Widerstand entgegen, sondern fördert nach Kräften den willkommenen Akt des Vergessens.“ Protokollarisch raunt der wilhelminische Tintenpalast. In einigen Szenen gelingt es Müller, die halsstarrige Nabelschau seiner selbstverliebten Wichtigtuer in eine Farce umkippen zu lassen. Dann leuchtet ihr Wahn faszinierend auf. Aber zu selten sind diese Oasen der Lesefreude, zu lang und öd die dazwischenliegenden Durststrecken.
Olaf Müller: Tintenpalast. Roman, Berlin Verlag, Berlin 2000, 331 S., geb. XX,YY DM