Stephan Maus

Kurt Andersen: ‘Tollhaus der Möglichkeiten’ (FAZ)

Willst du mein Time Warner sein? Kurt Andersens Roman “Tollhaus der Möglichkeiten” (FAZ, 25.11.00)

George Mactire ist ein erfolgreicher Filmproduzent, seine Frau Elisabeth Zimbalist die Gründerin und Chefin des Internet-Startups „Fine Technololgies“. Er liefert den von den Neuen Medien so dringend benötigten Content, sie steckt immer neue Claims im Cyberspace ab. Über beide wacht die Hochfinanz mit Dollarzeichen in den Argusaugen. Die Mactire-Zimbalists sind eine moderne Familie, die in den eigenen vier Wänden über´s Intranet kommuniziert. Diese Ehe ist die Fortsetzung der Fusion von AOL und Time Warner mit privaten Mitteln. George und Lizzie leben im auratischen, leicht jenseitigen Widerschein der Medien: „Die Vordertreppe ist ungewöhnlich gut erhellt, was an dem neuen Riesenfernseher der Nachbarn liegt. Im bläulichen Lichtschein einer anderthalb Meter großen Nahaufnahme von Agent Scullys Gesicht angelt Lizzie nach dem Haustürschlüssel.“ Der Produzent Mactire ist eben dabei, ein brandneues Nachrichten-Format zu entwickeln, das die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit auflöst. Die Wahrheit ist nirgendwo da draußen!

In diesem Roman aus dem Departement Mergers & Acquisitions arbeitet die Fiktion unterschwellig an der feindlichen Übernahme der Fakten. So finden die Realität und ihre künstliche oder künstlerische Deformation sogar Platz auf dem engen Raum des Gesichtes einer Protagonistin, „die ein ganzes Archipel von Leberfleckchen auf der linken Schläfe hat, das aussieht wie die Aleuten, und auf der rechten Schläfe eine dauerhafte Tattoo-Nachbildung (wenngleich abstrakter und geometrischer) des Muttermals.“ Es ließe sich eine ergiebige Inventur solcher Schnittstellen zwischen Künstlichem und Natürlichem in dem Text machen. Andersen hat seine Handlung bewußt im Jahr 2000 angesiedelt. Der Jahrhundertwechsel gibt dem englischen Original seinen Titel: „Turn of the Century“. Da der wirkliche Jahrtausend-Wechsel erst 2001 stattfindet, wird das Phantom- und Fake-Jahr 2000 zum literarischen Experimentierfeld für facettenreiche Simulationen.

Mactires neue Serie faßt den Verlauf seiner gesamten Karriere zusammen und bildet ihren krönenden Abschluß: Vom Kriegsreporter hat er sich in die glamouröse Welt des Show Bizz hochgearbeitet. Aus ehemaligem Engagement wurde aufgeklärter Zynismus. Mactires neues Format Real Time spiegelt auch die Funktionsweise des Romans wider, der zwischen New Journalism und klassischem Gesellschaftsroman angesiedelt ist. Andersen forrest-gumpt Hollywood, Wallstreet, Silicon Valley und Alley. The Truman-Show must go on! Das Mediengeschäft ist nicht nur ein Haifischbecken, sondern ein Dauerbad im Haifischunterkieferbassin selbst. Hin und wieder irrlichtern Bill Gates und sein Finanz-Adlatus Steve Ballmer wie ein Doppelgestirn des Bösen durchs Bild. Gegen den Kraken Microsoft helfen nur die zwei deutschen Underground-Hacker Willibald und Heinrich. Einzig, was diese Namensgebung angeht, hätte der Autor vielleicht etwas besser in der Szene recherchieren sollen.

Ansonsten ist Kurt Andersen ein Profi. Alle Themen, Schauplätze und Soziolekte seines Romans kennt er aus erster Hand. Der Mitbegründer des Satiremagazins Spy schreibt erstklassige Satiren. Der ehemalige Reporter der Time liefert vorzüglich recherchierte, detailfreudige und präzise gezeichnete Chefetagenstudien. Der Kolumnist des New Yorker schreibt erwartungsgemäß bissig und urban witzig. Seine Dialoge sind schnell und comedy-reif. Auch über das Internet-Milieu weiß er Bescheid: Andersen hat die Website Inside.com gegründet, in der man Gossip und gut recherchierte Hintergrundberichte aus der Medienwelt lesen kann. Von seinen Investoren bereitgestelltes Startkapital: 23 Millionen Dollar. Also kennt er sich auch im Milieu der Risikokapitalisten, der Business Pläne und des Cash Burns aus. So sehr erfüllt der Roman alle Erwartungen, die man an einen Profi wie Andersen stellen kann, daß man aufpassen muß, daß einem die Rezension nicht zum Klappentext gerät.

In diesem Roman finden sich sämtliche Themen der aktuellen Wirtschaftspresse wieder. Vom WAP-Handy bis zum B2B-Computerprogramm ist hier alles so up to date, daß selbst die zitierten Aktienkurse noch real time zu sein scheinen. War bei Stendhal der Roman noch ein Spiegel, der über die Landstraße wandert, wird er bei Andersen zum Real-Time-Candle-Stick-Diagramm. Er ist der Balzac der New Economy. Er wird ihr allerdings mit sehr herkömmlichen Techniken der Good Old Literature Herr. Perfektes Handwerk, aber keine Experimente. Durch einen geheimnisvollen, umgekehrt proportional sich entwickelnden Magnetismus scheinen sich die neumodischsten Themen immer in die herkömmlichsten Schreibformen zu gießen. Verblüffend auch, daß eine Satire auf die Unterhaltungsindustrie zur Inkarnation des makellosen Unterhaltungsproduktes, des präzise kalkulierten Bestsellers gerät. Aber wer will schon etwas gegen Bestseller sagen, wenn sie in einer solch stilvoll Sprache wie dieser gehalten sind: „Mal angenommen, Träume, alle Träume, sind bloß sinnloser Output, geschwätziger Blödsinn, den das Hirn nachts aussondert, während es seine Festplatte putzt, die Erinnerung organisiert.“

Andersen parodiert gekonnt die überdrehte Sprache der Programmacher, den Slang der PR-Strategen, die Motivations-Hexensprüche und den Dummlekt der Management-Coaches. Die Personen sind mit hochmoderner 3D-Technik entworfen. Andersens Figurenverwaltung ist hocheffizient, er schöpft seine Human Ressources gewinnbringend aus. Dem Autor ist ein plastisch schimmerndes Erzähl-Hologramm gelungen. Wenn schon Realismus, dann so einer. Von spannender Spekulationsattacke gegen Microsoft bis hin zu New Yorker Garden Party inkl. impressionistisch hingetüpfelten Glühwürmchen ist alles über die oberen Zehntausend drin, die sich ebenso exquisit kleiden, wie sie essen: „Und richtig, er kommt hereingeschlendert, in einem leicht pink wirkenden Anzug, so erlesen und seidig wie Carpaccio.“

Den deutschen Titel „Tollhaus der Möglichkeiten“ hat der Verlag aus der erfolgversprechenden DNS von Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“ frech geklont. Dabei wäre das überhaupt nicht nötig gewesen. Andersens Vanity Fair ist wesentlich besser als Tom Wolfes; stilistisch origineller und auch weniger schematisch in seiner klassischen Dramaturgie des Rise-and-Fall.

Nach 600 Seiten ist das Abwehrsystem des Romans allerdings etwas geschwächt durch all die Hollywood-Viren, die er sich zum Thema gemacht hat. Andersen steuert etwas zu sehr auf ein Happy End zu, das eine um einige bittere Erfahrungen reichere, aber glückliche amerikanische Familie zeigt. Die reinigende Kraft des Purgatoriums war groß, geläutert geht die Ehe Mactire-Zimbalist aus privatem Konkurrenzkampf und Hierarchie-Paranoia hervor. Kurz vor dem katastrophalen Absturz wird das binnenfamiliäre Betriebssystem wieder neugestartet, surrt und schnurrt sehr melodiös beim Hochfahren, und die Soundcard spielt Geigen. Der abgebrühte Mactire findet seinen jugendlichen Idealismus wieder und fliegt mit seiner Tochter nach Mexico, um eine Reportage über den Zapatisten-Widerstand zu drehen. Der Kampf all der kleinen Robin Hoods gegen monopolisierende Software-Giganten und übermächtige Investmentbanker, gegen Gates, Morgan Stanley, Fidelity & Co ist erfolgreich. Und zum Millenniums-Weihnachten wird gespendet, was die Spekulationsgewinne hergeben. Viva Zapata! Vielleicht verlangten das die Verbrauchertests und Beta-Lektüren des amerikanischen Verlages Random House, einem Unternehmen der weltumspannenden Bertelsmann-Krake, der auch der Karl Blessing Verlag gehört. Heiliger Bill, die Wege der Medien-Kapitalströme sind unergründlich. Bei Andersen sind sie Wasser auf die Mühlen eines perfekten Big-Business-Schmökers. Da hilft auch kein deutscher Underground-Hacker. Brillant, möchte man rufen und sich diskret ein, zwei Bertelsmann-Stammaktien zustecken lassen.


Kurt Andersen: Tollhaus der Möglichkeiten. Roman, Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Karl Blessing Verlag, München 2000, 735 S., geb., 50 DM