Stephan Maus

Marko Martin: ‘Der Prinz von Berlin’ (NZZ)

Aus dem Innern der Kuckucksuhr. Marko Martins Debütroman “Der Prinz von Berlin” (NZZ, 19.12.2000)

Der junge Libanese Jamal Kassim wird von seiner Familie nach Berlin geschickt, um sich zum Ingenieur ausbilden zu lassen. Statt der deutschen Wertarbeit entdeckt er die Freiheit des Individuums und darf endlich seine Homosexualität in vollen Zügen ausleben. Feiert er anfangs noch die wundervolle Leichtigkeit des Szenedaseins, gerät er im Laufe seines befristeten Aufenthaltes immer mehr in Kontakt mit der scharfkantigen Wirklichkeit, bis sich der luftig schwebende Ingenieursstudent gegen Ende des Romans als schuftender Bauarbeiter unter Illegalen wiederfindet. Der ehemals hedonistische Partyschwule steht nun knöcheltief im Schlamm und schraubt mit klammen Fingern an den dreckigen Fundamenten des rundum verchromten neuen Berlins. Der Prinz aus dem Orient verwandelt sich zum Billiglohnarbeiter aus dem nahen Osten. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist auf vier Jahre begrenzt, doch Jamal will nicht zurück in den Libanon. Nach vielen sentimentalen und dramaturgischen Spitzkehren sorgt die Zweckheirat des Prinzen mit seiner deutschen Seelenverwandten und „Elfenkönigin“ Katja für das Happy End.

Mit scheherazadehaftem Erzähldrang fabuliert Marko Martin einen Episodenroman zusammen, der die Entwicklung eines Luftikus hin zu einem gereiften Mann mit etwas mehr Bodenhaftung zeigen soll. Berlin wird von unten gezeigt, aus multikultureller Randgruppenperspektive: erst die Darkrooms der Schwulenszene, dann mafiose Dunkelmänner und illegale Billiglohnarbeiter. Der Roman wird dabei ebenso plakativ wie die Anschläge an den Bauzäunen um den Potsdamer Platz herum, deren bunte Versprechen Martin spürbar zuwider sind. Die aufbegehrende Haltung gegen die glitzernde Boomtown Berlin ist sympathisch. Die ästhetischen Mittel, mit denen diese Haltung umgesetzt wird, sind jedoch dieselben, die die Traummaschinen der Sony-debis-Hyatt-Connection speisen: Marko Martin hat einen CinemaxX-Roman im Breitwandformat geschrieben, der auf leichten Konsum abzielt.

Während sich der Held immer mehr an der grobkörnigen Realität wund schürft, soll wenigstens die Lektüre des Textes frei von literarischen Reibungsverlusten sein. Der Autor inszeniert Lebensmut und furchtlosen Tatendrang im Grossstadtdschungel, doch formal will er kein Risiko eingehen. 150 Jahre nach Zola will Martin noch einmal dokumentieren, wie die Welt von unten aussieht und steigt mit seinem Helden in den Bauch von Berlin. Marko Martin verschwendet keinen Gedanken daran, wie heute Literatur vielleicht, vielleicht noch zeitgenössisch aussehen könnte. Die gleiche restaurative Geisteshaltung, die Berlin wieder zurück zur alten Pracht drängt, treibt Martin zur Wiederbelebung des sorglos vor sich hinplaudernden Panoramaromans von anno dunnemals.

Jamal will sich von allen einengenden Zwängen befreien, doch sein Autor lässt ihn nicht aus dem altmodischen Korsett der pikaresken Entwicklungsschnurre. Jede Kunst- oder Kulturanstrengung erscheint in dieser apologetisch die nackte Urkraft des Lebens selbst feiernden Prosa als etwas Synthetisches, einzig dazu geeignet, „die störende Wirklichkeit weit, weit draussen zu halten.“ Dieser Realitätshunger nimmt Martin jede Angst vor den abgegriffensten Klischees. Das gleiche Räderwerk des Kitsches und der Biederkeit, das eine in mehreren Szenen verspottete Kuckucksuhr antreibt, tickt im Inneren des ganzen Romans. Und viertelstündlich grüsst der Kalauer. Wie in Montesquieus Lettres persanes wird der Exot zur entlarvenden Kontrastfigur, vor der sich die landestypischen Unarten und Eigenheiten abzeichnen sollen. Das nimmt Martin zum Anlass, leckgeschlagene Satiren vom Stapel laufen zu lassen, die man schon unzählige Male über deutsche Kleinkunstbühnen hat schlingern sehen.

Die grösste Verachtung zeigt Martin für Psycho-Schmonzetten. Doch im Grunde schreibt er 500 Seiten lang über nichts anderes als Wut, Trauer und Ängste seines Helden. Oftmals fällt Martin in dasselbe Männergruppen-Vokabular, das er spöttisch parodiert. Therapeutisch quietschen die ausgeleierten Federn dieses West-Östlichen Diwans. Dazu hat der Prinz aus dem Morgenland noch ziemlich nahe an Euphrat und Tigris gebaut. Es wird nie wirklich klar, was genau diesen modernen Candide von jedem Au-Pair-Ausländer unterscheidet, dem es einerseits weitab von Mama und Papa ganz gut gefällt, der andererseits aber das Essen in der Fremde ein bisschen gewöhnungsbedürftig findet. Und was fällt Marko Martin aus Burgstädt/Sachsen zum Libanon ein? Nun, die Luft war „samten“, „der Sternenhimmel stürzte ins Meer, das hinter der Auffahrt sein blaues Missak-Auge zeigte“, der abendliche Ruf des Muezzins „zersang Träume“ und in der Ferne tröpfelte sich eine Zikade Huile d´olive extra vierge über´s arthritische Kniegelenk. Das ganze abendfüllende Club-Mediterranée-Programm eben.

Der anekdotenpralle Schmöker funktioniert wie ein gut gemeinter, doch weitestgehend kunstfreier Verständigungstext. Coming-out-begleitend und auch sonst ganz im Geiste des STUYWESANTschen Schlachtrufes Come together!


Marko Martin: Der Prinz von Berlin. Roman, Quadriga Verlag, München 2000, Gebunden, 560 S., Fr. XX,YY