Peter Schlemihl Superstar. Christine Wunnickes Rock-Märchen “Jetlag”
1969. Die Rock-Ikone Phineas Sloan alias Cuddie Savoy steigt im New Yorker Lakehurst-Hotel ab, beginnt den Abend mit einer Überdosis Sex and Drugs and Rock ´n´ Roll, fällt ins Koma und findet sich irgendwann ziemlich high im verspiegelten Hotelfahrstuhl wieder. Um ihn herum brennt lichterloh das Hotel, light my fire. Gerettet wird Phineas Sloan, zurück bleibt Cuddie Savoy. Die bürgerliche Seite der Pop-Ikone kann sich nach der Brandkatastrophe nicht mehr an ihre Star-Vergangenheit erinnern. Phineas Sloan will keine Musik mehr machen, zieht sich in die efeuumrankte Abgeschiedenheit eines Landhauses zurück, spielt an den Knöpfe in seiner Strickjacke und lebt von seinen Tantiemen.
27 Jahre später, 1996, wacht die glamouröse Seite der multiplen Rockpersönlichkeit im Fahrstuhl des wieder aufgebauten Lakehurst-Hotels auf: Cuddie Savoy, ein ungekämmter Phönix im klaffenden Bademantel, ohne Schatten und Spiegelbild. Wie in Spike Jonzes Film Being John Malkovitch hat hier ein Fahrstuhl im 7 1/2. Stock der Wirklichkeit angehalten, und die Türen öffnen sich auf eine Zwischenwelt der phantastischen Erzählungen.
1969. Der Fahrstuhl. 1996: Christine Wunnickes Rock-Märchen schwingt im Spannungsfeld der gespiegelten Jahreszahlen. Die Pop-Welt verschmilzt mit Motiven der Gespenster-Romantik. Mit existentiellem Jetlag durchlebt Cuddie Savoy alle Hochs und Tiefs eines Gespensterlebens. Einerseits kann der Pop-Zombie dank seines gelösten Aggregatzustandes umsonst durchs Drehkreuz der New Yorker Subway diffundieren, andererseits ist ihm seltsam kalt in den neblichten Strassen, downtown, nachts um halb vier. Der Ruhm des Underdogs Phineas Sloan scheint in einem stillschweigenden Teufelspakt mit einer Persönlichkeitsspaltung erkauft worden zu sein. Während der zu ewiger Jugend verdammte Cuddie versucht, dem Geheimnis seiner schattenlosen Existenz auf die Spur zu kommen, ohne sich dabei allzu sehr zu entmaterialisieren, zieht sich sein bürgerliches Alter Ego die Rheumadecke über die fröstelnden Schultern. Früher ließ er noch einen brandroten Chinchilla-Mantel wehen. In einem Show-Down treffen Spooky Cuddie und der lethargische Sloan aufeinander. Das liest sich, als suchte Ziggy Stardust den Frührentner David Bowie in einer Kleingartenparzelle heim.
Wunnicke erzählt ihre Pop-Gespenstergeschichte in zehn straff organisierten Kapiteln. Kurze, rockig rhythmisierte Sätze treiben die Handlung voran. Der Text arbeitet mit refrainartigen Wiederholungen. Das Echo wird zum stilistischen Pendant des Spiegelbild-Themas. Das poetische Schmuckwerk des Romans entstammt der psychedelischen Bilderwelt der Sechziger: hier züngelt eine Eidechse, da klafft ein „Schlangenrachen“, in einem Alptraum schaukelt eine Orchidee, und ein guter Trip katapultiert dich in entfernte „Spiralnebel“. Das Gedächtnis der ehemaligen Show Bizz-Heroen ist eine Juke Box, und diese Juke Box spielt den Blues. Einen Blues ohne Pathos. Wunnickes Roman ist klassisch, manche werden sagen konventionell. Eine schnörkellose, perfekt gespielte Gitarrenmelodie im gegenwärtigen Soundteppich aus Samples, Mixes, Cuts und Scratches. Rock ´n Roll will never die.
Christine Wunnicke: Jetlag. Roman, Knaus Verlag, München 2000, 256 S., Fr. XX,YY