Stephan Maus

Tobias O. Meissner: ‘Neverwake’ (NZZ)

Das Wunderland hinter dem Flachbildschirm. Tobias O. Meissners Virtuality-Fiction “Neverwake” (NZZ, 03.05.01)

Der Berliner Autor Tobias O. Meissner verfolgt eine verwirrende Publikationsstrategie. Im Herbst 2000 veröffentlichte er mit seinem Roman „Todestag“ ein Werk, dessen Programm die Repolitisierung des Erzählens war und den Lesern vom Verlag als Renaissance der engagierten Literatur angeboten wurde. Pünktlich zum mythischen Kubrick-Jahr 2001 erscheint nun mit dem Roman „Neverwake“ eine Genre-Fantasie über digitale, eskapistische Jugendkulturen, die spielerisch den Cyberspace kartographiert. In „Todestag“ wird ein fiktives Attentat auf den Bundeskanzler verhandelt. In „Neverwake“ lassen minderjährige Helden die Schutzschilder feindlicher Raumschiffe unter dem Dauerfeuer ihrer Laser-Kanonen zerschmelzen und ziehen in wendigen Raumgleitern elegante Bahnen durch simulierte Welten. Meissner tritt durch den Flachbildschirm ins Wunderland. Nach Littérature engagée nun also Cyberpunk. Ein solch gegensätzliches Programm ist zumindest ungelesen in der jüngeren deutschen Literatur.

Amerikanischer Cyberpunk kombiniert High-Tech-Welten mit archaischen, tribalen Mythen und Verhaltensmustern. Im digitalen Universum der Gründungsväter William Gibson oder Neal Stephenson herrscht düster schwelende Endzeitstimmung. Die sieben Reiter der Apokalypse galoppieren triumphierend durchs High-Speed-Modem. Meissner bespielt die Klaviatur dieses Genres ebenso gekonnt wie seine daddelsüchtigen Protagonisten ihre Spielkonsolen. Die Helden? Nun, „Slamdiver, Oversurf-Kids, Pseudo-Cyborgs mit Metallimplantaten“. Mit Simulationsbrillen auf der nervös bebenden Nase klinken sich die Datencowboys in ihre künstlichen Paradiese ein und tragen dort megalomane Duelle gegen ihresgleichen oder Titanen „mit Brustwarzenringen in der Grössenordnung von Türklopfern“ aus. Zur Finanzierung der laufenden Lebenskosten dealen sie mit „strengstgeheimen Cheat-Codes“, die einen Spieler problemlos in den nächsten Level befördern. Hacker, Cracker, Phreaker. Ihr Sprachmodus ist der Superlativ.

Meissner scheint diese digitalen Welten so intensiv absorbiert zu haben, dass sie sogar schon Spuren in seinem Namenszug hinterlassen haben. Das zentrale „O.“ ruht zwischen seinem Vor- und seinem Nachnamen wie eine Symbol für einen offenen Schaltkreis. Als wäre im „grosse(n) kosmische(n) Wechselspiel von Nullen und Einsen“ ein Null-Meteor in des Autors Taufscheinakte eingeschlagen. Meissner selbst versteckt sich im Text hinter dem raunenden Anagramm EIN ROBOT.MESSIAS. Der Autor als Bithead.

Schon in seinem mutig-anarchischen Debüt-Roman „Starfish Rules“ hat Meissner bewundernswert souverän die Versatzstücke populärer Kulturen miteinander kurzgeschlossen, dass sie mächtig Funken schlugen. „Neverwake“ erfreut nun mit einer harmonischen Entsprechung von Form und Inhalt. Betrachtet man Videospiele als ausgeklügelte Rührmaschinen, die unterschiedlichste Versatzstücke populärer Mythen und Dekors zu einem eklektischen Abenteuer vermengen, finden sie in Meissners spielerisch montiertem Text ein angemessenes Pendant. „Neverwake“ ist der Roman zur Konsole.

Meissner beginnt seinen Text mit einer Beschwörung virtueller Reisen, die ein wenig an Rimbauds „Bâteau ivre“ erinnert. Während sich Rimbauds Gedicht aus den damals populären Kupferstichen und den phantastischen Abenteuern Jules Vernes speist, lässt sich Meissner von der hochauflösenden Playstation II inspirieren. Das trunkene Schiff ist heute ein torkelndes Raumschiff. Die leistungsstärkste Muse ist eine schnelle Graphikkarte. Waren die antiken Tragödien die klassischen Referenztexte, so bezieht sich diese Virtuality-Fiction auf die Scripts der Spieldesigner. Doch die Spiele selbst verarbeiten wieder die Monumente der klassischen Kunst: „Wie mit bläulich-elektronischem Wasser übergossen, statisch Funken schlagend und vor verhaltener Energie knisternd, schälte sich ein Ding aus dem Dunkel, das in Gestaltung und Grösse Ähnlichkeit mit der Kathedrale von Canterbury hatte.“ Diese künstliche Intelligenz „Debris“, die hier den Weltraum durchmisst, formt sich am Weltkulturerbe, weil ihre Schöpfer allabendlich die Sendesignale von Arte empfangen haben: „Milliarden von gotischen Erkern, Antennen und Türmchen, achsensymmetrisch aus Titanium- und Edelmetallen legiert, legten Zeugnis davon ab, dass die Urväter der Debris Fernmeldesatelliten gewesen waren, die im öden Durchkreisen des Erdorbits nichts anderes zu tun gehabt hatten, als sich jede Ausstrahlung architektonischen Bildungsfernsehens als Religion zu verinnerlichen.“ So schliesst sich wieder der Kreislauf der recyclenden Kulturen. Aus Débris, aus Schrott und Abfall, erwachsen neue Kathedralen, die immer schon auch mehrstöckige Stilcollagen waren.

Behende springt Meissner von einem Stil-Level zum anderen: homerische Space-Odysseen und Schlachten im interstellaren Freizeitpark folgen den amerikanisch-lässigen Dialogen der Konsolen-Kids, die wiederum detailverliebte Echtzeitreportagen über die Abenteuer aus dem Innern der Maschinen unterbrechen. Mit akribischer Sammelwut hat der Autor alle Begriffe aus dem Entertainment-Marketing und dem Techno-Vokabular der Spielentwickler zusammengetragen und in seinen Text eingeflochten, den er zusätzlich noch mit amüsanten Wortschöpfungen anreichert. Streckenweise infiziert feinstes Denglish Meissners Text wie ein gefährlicher Trojaner-Virus. So entsteht ein barock überladenes Flickwerk, das die überfrachtete Füllhorn-Ästhetik der digitalen Spielkulturen widerspiegelt.

Die Welt der Micro-Slaves ist von machistischen Riten beherrscht. Im virtuellen Universum treten die Protagonisten mit so überzeugenden Pseudonymen wie „Tabula Razor“ oder „Suicider“ gegeneinander an. Personengespanne wie „Winnie Mamba und seine Müllprinzessin“ scheinen direkt auf dem Film-Set von „Mad Max“ gecastet worden zu sein. Das hier ist „Krieg der Sterne“ und kein Frühjahrsputz im „Blütenstaubzimmer“. Die digitalen Helden haben höchstens noch ein bisschen Magnesium-Staub von Jupiter in ihren simulierten Gaultier-Stiefeln. In schwerelos-schwebenden Schlachten machen sie Scharen von todesbringenden Halbschalentieren ein polychromes Garaus. Amüsante, puerile Spiele: „Zugegeben – manchmal waren wir auch einfach nur ganz furchtbar albern.“

Der Autor hat seinen Stil-Generator in den rhetorischen Modus der Hyperbel geswitcht. Das Simulations-Modul für originalgetreuen amerikanischen Science-Fiction-Sound läuft reibungslos im Hintergrund. Auf dem Buchumschlag guckt Meissner ein bisschen wie Snake Plissgen aus John Carpenters Endzeit-Thriller „Die Klapperschlange“. Und so schreibt er auch. Das passt hervorragend zum Thema. Meissner weiss aus dem in sorgloser Schwerelosigkeit kreiselnden, oftmals albernen Pop-Trash immer wieder originelle, grelle Bilder zu schmelzen: „Um sie herum war die mattschwarze Weite des Weltraums, Sonnend darin verteilt wie funkelnde Zähne, die trunkene Titanen bei einer Schlägerei verloren hatten.“ Impressionistisch tüpfelt er einen verseuchten Science-Fiction-Dekor um seine Cyber-Abenteuer: „Der Himmel nahm jetzt bei Sonnenuntergang die Farben all der Giftstoffe an, aus denen er bestand.“ Meissners Zukunftswelt ist voller einfallsreicher Details und wie die Videospiele „vollgestopft mit Gimmicks“. Auch modisch ist man up-to-date: den wichtigen Charakteren reicht das Führungspersonal „braun-goldene Kunstwildlederkarten“.

Der klassische Cyberpunk ist ursprünglich von ähnlichem Geiste des zivilen Widerstandes beseelt wie die Littérature engagée. Der integre Chaos-Hacker ist der Street-Fighting-Man von heute. Diese rebellische Seite vermisst man etwas in Meissners Text, der sich mit einem virtuosen Spiel in den Codes der Matrix begnügt. Tobias O. Meissner ist sichtlich von digitalem Camp und Pulp fasziniert und scheint kein Interesse daran zu haben, die eskapistische Matrix zu hacken. Dann schon eher den Bundeskanzler.


Tobias O. Meissner: Neverwake. Roman, Eichborn Berlin, Frankfurt am Main 2001, Gebunden, 154 S., Fr. XX,YY