Stephan Maus

Banana Yoshimoto: ‘Amrita’ (FAZ)

Im Schatten junger Bananenstaudenblüte. Banana Yoshimotos Roman “Amrita” (FAZ, 01.06.01)

Banana Yoshimoto – ein Name, ein Programm. Ihr Pseudonym Banana hat Mahoko Yoshimoto aus Bewunderung für die Schönheit blühender Bananenstauden gewählt. In Japan ist Banana ein Superstar. Wenn junge Japanerinnen nicht in Manga-Comics blättern, lesen sie Banana.

Die Erzählerin Sakumi hat eine Familie. Vierzig Prozent der Familie ist tot. Der Rest versteht sich ausgezeichnet und wird ergänzt durch eine entfernte Cousine und die beste Freundin der Mutter. Allesamt „stehen sich gefühlsmäßig außerordentlich nahe.“ Sakumi findet diese Wahlfamilie ziemlich extravagant, obwohl jede durchschnittliche Kreuzberger Wohngemeinschaft denkwürdigere Originale zu bieten hat. Sakumi ist auf den Kopf gefallen, und so erzählt sie auch. Infolge ihres Unfalls hat sie ihr Gedächtnis verloren. Aber nach dem zu urteilen, was ihr zur ihrer Gegenwart einfällt, kann einen der Verlust ihrer Vergangenheit nicht besonders traurig stimmen. Im Laufe des Romans findet Sakumi leider ihr Gedächtnis wieder und belästigt den entnervten Leser von da an auch noch mit ihren Erinnerungen. Sakumis Schwester ist ebenfalls ein Unfallopfer. Mayu ist mit dem Auto verunglückt, tödlich.

Glücklicherweise erweist sich der kleine Bruder Yoshio als parapsychologisches Genie, der Sakumi für spiritistische Familientreffen und telepathische Unfallopferrückführung sensibilisiert. Eigentlich recht einfach, denn ein bißchen hat auch Sakumi das zweite Gesicht, nicht so ganz, vielleicht eher so ein eindreisiebtel Gesicht. Zum Gedankenlesen reicht es gerade noch. In Tages- und Nachtgesichtern macht sich das gesamte Romanpersonal regelmäßig auf Astralreisen zum Familientarif, um den verstorbenen Verwandten einen ätherischen Besuch abzustatten, einen Hauch Zukunft zu erschnuppern und gemeinsam die sehenswerten Lichtverhältnisse der vierten Dimension zu bewundern. Mesmerismus im Pyjama ist an der Tagesordnung und das dritte Auge wird vererbt von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter.

Neben ihrem dritten Auge und einer Veranlagung zu Stephen Kingschem Shining hat die Heldin noch ein recht metaphysisches Näschen: Mal riecht das Universum in ihrer Body-Shop-Prosa penetrant nach Verzweiflung, mal duftet es herb nach Einsamkeit. Existentialiste Nr. 2, von Chanel. Und wie schmeckt das Licht, das Geister des Nachts aussenden? In Amrita steht´s: „Ein süßes, kaltes, zartes Licht, wie das von Leuchtkäfern, wollte man es visuell beschreiben – geschmacklich wäre es am ehesten mit Birnensorbet zu vergleichen gewesen.“ Yoshimoto krönt ihr Bananensorbet mit UFOs. Kurz verharren sie über dem Nachthimmel von Tokio, doch ihre Flugpläne kennt nur der kleine Bruder, und wie ihr Fernlicht schmeckt, weiß keiner. Und das, obwohl Sakumi ein karmisches Superweib ist: „Du bist wiedergeboren, weißt du, das heißt, du hast schon erreicht, wofür Yoga-Leute ihr ganzes Leben brauchen. Das ist einzigartig.“ Total Banane. Und dann noch nicht mal wissen, wie UFO-Fernlicht schmeckt. Nach Yogi-Tee natürlich. Bei all dem New Age-Hokuspokus lernt Sakumi, das Leben bedingungslos zu schätzen. Mantrahaft lullt sie einen mit der seligen Lebensfreude der rechtzeitig auf den Kopf Gefallenen ein, so daß man stehenden Fußes zum radikalen No-Future-Punk konvertieren möchte. Lesern, die ausschließlich ihre fünf Sinne beieinander haben, wird all diese geistverlassene Geisterseherei albern erscheinen.

An dramatischer Handlung hat Yoshimotos esoterisches Bananarama nicht mehr zu bieten als das übliche Geplätscher einer Familien-Soap. Eine Busenfreundin schreibt einen irre lieben Brief, man diskutiert ganz toll in der nächtlichen Küche und hat einen Wahnsinnsspaß in Strandbars. Kirschbaum- statt Lindenstraße. Kurzum, es geht um alles. Also um nichts. Am bereicherndsten sind die kulinarischen Fußnoten der Übersetzerin. Alle zwanzig Seiten ertönt der penetrante Refrain aller Verständigungstexte: „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“ Man meint, den Erfolgsbericht einer therapeutischen Familienaufstellung zu lesen. Nur läßt sich nicht ausmachen, welches Leid kuriert werden soll. Die Sonntagnachmittag-Depression? Metaphysischer Silberblick? Als heilsam erweist sich in jedem Falle das unbeteiligte Tierreich: „Den Mondfischen war das egal, sie gaben mir Trost.“

Yoshimoto erhebt das psychische Wiederkäuen zum Erzählprinzip. Amrita ist kitschigste Befindlichkeitsprosa. Die Erzählerin übt sich in Seelenkaraoke zu abgenudelten Gassenhauern. Das Tagebuch einer durchschnittlich begabten Oberschülerin dürfte mehr literarische Qualitäten aufweisen als dieser postschädeltraumatische Seelenstrip im Schatten junger Bananenstaudenblüte. Nach zwanzig Seiten Lektüre tobt einem das Schlafsaal-Geschnatter eines überfüllten Mädchenpensionats unter der Schädeldecke. Oder ist Amrita eine Zen-Übung, die einem die absolute Leere zugängliche machen soll? Wäre Banana nicht solch ein Starlet, hätte ein gewissenhafter Lektor diesen orientierungslos vor sich hinbrabbelnden Text auf Haiku-Länge gekürzt: Vier Verse, insgesamt siebzehn Silben. Banana Yoshimotos Vater ist ein einflußreicher japanischer Literaturkritiker, heißt es. Leider, leider scheint er auch ein Anhänger antiautoritärer Erziehungsprinzipien zu sein.

Sakumi betrachtet die Welt durch große Manga-Kulleraugen, und die Autorin liefert ungebrochen alle banalen Wahrnehmungen ihrer geschwätzigen, dummen Heldin. Banana Yoshimoto muß die Weltsicht der populären japanischen Comics zutiefst verinnerlicht haben. Den Rätseln des Weltenlaufes rückt sie mit den wolkigen Mitteln des klassischen Poesiealbums auf den Leib und freut sich ungehemmt ihres Berufes: „Schriftsteller zu sein ist ein toller Beruf.“ Leser zu sein nicht immer. Die beschreibenden Passagen flattern aus einem ausgeleierten Drehständer voller Asien-Postkarten: Strand-Sand-Sonne-Neonreklame, alles in Fujicolor. Yoshimoto schichtet ihren Kitsch zu mehrstöckigen Absurditäten: „Die Schicht von Traurigkeit, die ihn umgab, war so dick wie die Menschheitsgeschichte, und der Wind, der darin wehte, ließ einen frösteln wie der eisige Hauch, der über Grabsteine strich, nach denen sich schon lange niemand mehr umschaute.“ Doppel-Whopper-Bilder, literarisches Junk-Food.

Hier ist der Mensch noch Kleiderschrank und sein Herz eine appetitliche Wollsocke: „Die Betreffende selbst lachte – nur das Herz innen drin wurde elender und elender, wurde von Motten zerfressen, bis es schließlich nicht mehr da war.“ Die Figuren holzschnittartig zu nennen, hieße Hokusai spotten. Ein spielerischer Umgang mit den Erzähl-Codes und der Bilderwelt der Shôjo-Mangas für Mädchen hätte durchaus amüsant sein können. Doch einem einfältigen Gemüt über 500 Seiten folgen zu müssen, ist kein Vergnügen. Amrita hat nichts anderes zu bieten als landläufige Ärzte-, Heimat- und Erbauungsliteratur. Seit langem schon hat die japanische Unterhaltungsindustrie das Bergidyll Heidi für sich entdeckt und daraus einen Zeichentrickfilm, einen Animé gemacht: Kulleraugen und Kalenderweisheiten. Nun hat der Züricher Verlag Diogenes die postpubertären tokioter Abenteuer einer geistigen Erbin von Johanna Spyris Alpengirlie eindeutschen lassen. Dabei sollte sich kein Japanologe mit der Übersetzung von aufgedunsenen Groschenheftchen den Ruf ruinieren müssen.

Muß man kurze, lustig-lollipopbunte Comic-Strips zum Rückwärts-Lesen in unermeßlich öde Bleiwüsten zum Vorwärts-Lesen verwandeln? Kommt bald eine sechshundertseitige Pokémon-Saga in bibliophiler Dünndruck-Ausgabe? Ein langatmig angelegter Entwicklungsroman, collagiert einzig aus Britney Spears Songtexten? Wer wird das amüsante deutsche Panzer-Quartett-Kartenspiel in eine adäquate Romanform gießen? Was heißt Panzer-Quartett auf Japanisch? Vor allem aber: Wer soll all diesen Trash lesen?


Banana Yoshimoto: Amrita. Roman, Aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns, Diogenes Verlag, Zürich 2000, 510 S., geb., XX,YY DM