Die Anatomie der Zermürbung. Ingo Niermanns Roman-Debüt “Der Effekt” (NZZ, 17.07.01)
Julius ist tot. Bruno? Auch tot. Party, Drogen, Tod. Live fast, die young. Rebecca lebt noch, kreist um den Tod ihres Freundes Julius, erinnert sich an seine letzten Tage, die letzten gemeinsamen Momente und transportiert seine Asche in „Jumbo-Joghurt-Bechern“ zur Windbestattung. Viel ist nicht los, war nicht los und wird es auch niemals sein. Parties, nächtliche Taxifahrten, endlose Gesprächsschleifen, Neonkleckse auf den Fassaden der Sky-Creeper in einer anonymen Metropole, wahrscheinlich irgendwo in Asien, denn man lässt sich auf Motorrad-Taxis chauffieren und trägt dabei Atemmasken.
„Der Effekt“ gliedert sich in zwei Teile: Der erste ist mit „Gerade“ überschrieben, der zweite mit „Gleich“. „Gerade“ beleuchtet den Moment kurz nach Julius´ Tod, „Gleich“ die Zeit unmittelbar davor. Gerade und gleich: das Jetzt bleibt die Leerstelle, um die herum der Roman geschrieben ist. Man liest das pointillistische Portrait einer Clique. Diese Menschen pflegen einen synthetischen Lebensstil. Sie experimentieren mit neuen Drogen in komplexen Mischungsverhältnissen, dekorieren sich mit Drinks, die sich bunt in ihren blankpolierten Schuhen spiegeln, und obenauf schwimmt ihr vergifteter Hypothalamus wie eine Cocktailkirsche. Ihre Paradiese sind künstlich und tödlich. Eine geschmackvoll gekleidete Bohème des Nachtlebens, die auch noch bei 3 Promille jedes Verb in allen Konjunktiv-Formen konjugieren kann. Das ganze Leben ist ein Konditionalsatz. Diese Helden sind erschöpft. Müde, sehr, sehr müde. Ihr rauschhafter Lebensstil ist kräftezehrend. Immer wieder ist die Rede von allgemeiner „Zermürbung“; das entsprechende Adjektiv durchwandert sämtliche zermürbenden Steigerungsformen.
Der Titel des Romans klingt nach physikalischem Experiment, und ähnlich liest sich der Text auch. Die Personen, Wellen oder Teilchen, haben die Newtonschen Gesetze abgestreift und flirren wie Elementarteilchen mit hoher Unschärfe durch den Teilchenbeschleuniger von Niermanns analytischer Prosa. Im verwirrenden Magnetfeld unübersichtlicher Beziehungsgeschichten ist ihr innerer Kompass arg durcheinandergeraten. Die Beziehungen sind hier ebenso ins Schräge verschoben wie die Syntax. Das muss der Dopplereffekt der Zermürbung sein. Ennui wuchert wie ein Spaltpilz in den Persönlichkeiten. Ich ist zwei andere. Die Bohémiens langweilen sich auf Konzeptparties, deren Rituale sie kaum selbst durchschauen. Eine Spur Leben glimmt höchstens noch im Schauspiel gekünstelter Gefühlsregungen auf, aber man ist zu lethargisch, um es wirklich zu geniessen. Künstlichkeit ist auf jeden Fall interessanter als Natürlichkeit, Masken sind amüsanter als Gesichter. Wie Kleiderpuppen stehen diese Dandys in den grell ausgeleuchteten Fenstern der Hochhäuser. Zu Bewusstsein kommt ihnen die Welt erst durch ihren faden Nachgeschmack.
Der Leser betrachtet diese verhältnismässig verlorene Generation wie durch Milchglas, durch leicht wehende Gaze-Vorhänge. Der Klappentext bringt das Konzept der Henry Jamesschen „Vermutungsperspektive“ ins Spiel und hat damit sicher nicht ganz unrecht. Die drogen- und müdigkeitsinduzierten Visionen der Personen sind von halluzinogener Präzision, machen aber oft nur beschränkt Sinn. Man weiss nicht genau, was diese Menschen eigentlich treibt. Aber das wissen sie wohl auch nicht. Was sie jedoch nicht an ausführlichem Reden hindert, das somit oftmals recht kryptisch gerät. Die Dialoge lesen sich wie ein einlullender Diskurs an den Rändern des heissen Breies. Kochen heisst im „Effekt“: „Die Mischung haltbarer Vorräte mit frischen Einkäufen unter Einwirkung von Hitze und Wasser.“ VHS-Grundkurs Physik. Ist man jedoch bereit, sich auf existentielle Tropismen und die subatomare Ebene der grossen und mittelgrossen Gefühle einzulassen, kann der Roman durchaus einen betörenden Reiz entwickeln.
Das Buch erfordert hohe Konzentration. Nach ungefähr der Hälfte beginnt „Der Effekt“ seinen Effekt zu machen. Etwa den eines monochromen, abstrakt verwaschenen Gemäldes, aus dessen Silhouetten sich hier und dort schlaglichtartig konkrete, sehr plastische Szenen herausschälen. Niermann arbeitet mit offensiver Langeweile als Stilprinzip. Er schreibt wie die späte Nouvelle Vague filmte.
„Der Effekt“ ist kühl, abstrakt, präzise, streckenweise preziös. Niermann hat ein empfindliches Sensorium für Formen und Strukturen. Der Text ordnet sich um soziale oder ästhetische Konstellationen und ist durchzogen von einem Gewirr von Bewegungs- und Lichtvektoren: „Staffelten sich in der Natur die Wolken, je höher man in sie stieg, in immer weiteren Schichten und bildeten die Sterne die abschliessende Wand – ihre unterschiedliche Helle liess sie nicht etwa vor- und zurücktreten -, gaben in der Stadt die Wolken die Wand und die Lichter den Raum.“ Eine schicke, originelle Textfaser, die an manchen Stellen allerdings etwas nervötend juckt.
Der Dekor des Romans ist entschieden modernistisch. Shopping-Mals, Hochhäuser, dünne Gipswände, Beton, Stahl, Glas, Kunstfasern. Bauhaus-Prosa. So verschwommen die Positionen der Personen zueinander sind, so genau positioniert Niermann sie in den Räumen, Clubs und auf den Balkonen. Minutiös sind die Beschreibungen ihrer Bewegungen, ihre Raumkoordinaten werden exakt bestimmt.
Die Protagonisten tragen unter fliessenden Stoffen ein hauchdünnes Nervenkostüm. Sie schützen ihrer neurasthenischen Hirne durch Abdunkelung der Räume. Ein überreiztes Nervengeflecht scheint den Text zu durchwuchern, der ganz in der Tradition einer dandyesken Dekadenz steht. Robert de Montesquiou in vollklimatisierter Shopping Mall.
Irgendwie scheint Ingo Niermann zum republikweiten popliterarischen Kegelverein zu gehören. Aus Bangkok schickt er schon mal zusammen mit Christian Kracht eine E-Mail mit ein, zwei Listen von Popgruppen an das Internet-Literatur-Forum ampool. Gute Popgruppen, schlechte Popgruppen, Ironie oder Post-Ironie - nur die Bangkoker Literaten-Enklave wird es wissen. Wie Bangkok überhaupt zum Zentrum der jungen deutschen Literatur zu werden scheint. Schon ABBA wusste: One night in Bangkok makes the hard man humble. Sicher gibt es in diesen Zirkeln einen Newsletter-Verteiler für die aktuellen Tageskarten sämtlicher 5-Sterne-Hotels aller Millionen-Metropolen der Welt. Prada- statt Pen-Club. Nur zu gerne wird man Niermann aus dem Hermès-Halstuch des trendigen Dandysmus´ einen fatalen Strick drehen wollen. Aber er ist der erste Autor, der einen ernstzunehmenden, stilistisch anspruchsvollen Text über jenes diffuse Lebensgefühl der Tristesse royale verfasst hat. Niermann ist der Einzige, der einer Attitüde der Glamour-Avantgarde einen stilistischen Modernismus folgen lässt. Das liest sich allerdings auch sehr viel anstrengender als das reaktionäre Lifestyle-Geschwätz und die gewöhnliche Jet-Set-Melancholie. Die Zermürbung von Niermanns Fin-de-Siècle-Bohémiens ist nervenzehrend. Vielleicht sollte er vor dem nächsten Buch einfach mal die Clique wechseln.
„Der Effekt“ ist eine harte Nuss. Man kann ihm nur wünschen, dass er inmitten all der locker-flockigen Erdnussflips-Literatur seine Leserschaft finden wird. Ansonsten müssen Kracht & Co ihren radikaleren Kollegen eben quersubventionieren.
Ingo Niermann: Der Effekt. Roman, Berlin Verlag, Berlin 2001. Gebunden, 188 S., Fr. XX,YY