New-Jersey-Klopse in Tränenfonds. Valerie Wilson Wesleys Drohschrieb “Es wird alles anders bleiben” (FAZ, 06.03.02)
Hutch und Eva sind ein schwarzes amerikanisches Mittelklasse-Ehepaar in den besten Jahren, und damit ist eigentlich auch schon alles zu Valery Wilson Wesleys neuem Roman gesagt. Eines Nachts, Freitag den 13., gegen zwei Uhr morgens, packt die Midlife &-night-Crisis Hutch am schlaflosen Schopf und zerrt ihn aus den Kissen. Er verläßt das warme Ehebett, sucht seine sieben Sachen zusammen und verläßt seine Eva: „Es herrscht keine Freude zwischen uns.“ Hugh, Hutch. Es dauert exakt ein Jahr und vierhundert Seiten, bis er wieder zu seiner Frau unter die Decke schlüpft und zum süßen Geigenklang des Happy-Ends in den hoffentlich ewigen Schlaf aller überflüssigen Prosahelden fällt.
Zwischen Ehekrise und Happy-End hat der Herrgott die Soap-Literatur gesetzt. Hutch ist Bauunternehmer und kommt ohne treusorgende Frau erwartungsgemäß schlecht zurecht. Sein sorgfältig eingerüstetes Leben fällt nach seinem kurzen Akt des Aufbegehrens in sich zusammen. Eva ist im tiefen Innern Künstlerin und findet in der Auszeit vom Ehealltag zu ihrer wahren Berufung zurück. Neben dem Allerweltsschicksal der Eheleute hakt Wilson Wesley noch einige Nebenschauplätze rührseliger Seelendramolette ab: Hutchs Sohn aus erster Ehe hat sein Coming-Out. Der Vater wird lernen, damit umzugehen. Evas Tochter aus erster Beziehung möchte Comedy-Star statt Star-Anwältin werden. Die Mutter wird lernen, damit umzugehen. Hutch fängt ein Verhältnis mit der Frau seines besten Freundes an. Bester Freund, Eva und die Kinder werden lernen, damit umzugehen. Eva fängt ein Verhältnis mit dem Ex-Lover ihrer Tochter an. Hutch und Evas Tochter werden lernen, wozu mittlerweile kein Leser mehr bereit sein wird: auch noch mit diesem Humbug umzugehen.
Weitere psychische Prüfsteine für Romanpersonal und Leser: Hutchs bester Freund wird von seiner Frau verlassen, Evas alter Daddy erleidet mit siebzig einen Herzinfarkt und heiratet in der Genesungsphase eine schlampige Blues-Sängerin, und die Hauskatze Bama kämpft mit chronischem Übergewicht. Geschickte Fernsehproduzenten machen aus diesem Themen-Sammelsurium drei Staffeln einer Teleseifenkiste. Ungeschickte Autoren machen daraus ein einziges Buch.
Wilson Wesleys fadenscheiniges Klischee-Patchwork wird auch nicht dadurch aufgewertet, daß sie ihre Figuren immer wieder auf ihre eigene Banalität verweisen läßt: „Mein ganzes Leben ist ein Klischee.“ Die Autorin bleibt Allgemeinplatzwart. Das Buch besteht zu fünfzig Prozent aus Sätzen, die man im sommerlichen Freibad auf aphoristischen Frottee-Handtüchern lesen kann: „Glück heißt, sich über jeden Tag neu zu freuen.“ In hemmungslosem Reader´s-Digest-Parlando inszeniert Wilson Wesley ihren schwindelerregenden Ringelpietz; - mal mit, mal ohne Anfassen. Aus dem Roman spricht die tiefe Weltenweisheit der späten Katja Epstein. Die Figuren verhalten sich wie eine dramatisch unterbelichtete Teenie-Clique. Die erotischen Passagen verkörpern die albernste Versuchung seit es Foto-Romane gibt. Wilson Wesleys Psychologie neigt zu latenter Putzigkeit. In die Augen ihrer Figuren zaubert sie lustige Krähenfüßchen, und wenn die Traurigkeit kommt, zieht sich das Lächeln aus den krähenfüßigen Augenwinkeln zurück in einen verborgenen „Seelenwinkel.“
Mechanisch leiert die Autorin alle denkbaren Personenkonstellationen herunter. Jedes Kapitel widmet sich dem pubertären Gefühlswirrwarr eines Duos. Die Autorin vertraut so wenig ihrem Zeitmanagement und der Aufmerksamkeit ihrer narkotisierten Leser, daß sie über jedes Kapitel ein Datum schreibt. Dabei hätte man der geradlinig heruntergeschnurrten Chronologie eines cäsarischen Kalenderjahres so eben noch ohne permanente Einblendung der Datumsanzeige folgen können. Wilson Wesleys Erzähltechniken stammen aus den goldenen Zeiten des Daumenkinos. Ihre Figurenzeichnung ist nicht sehr viel weiter entwickelt. Nicht einmal die Katzenpsychologie weiß sie glaubhaft darzustellen: „Die Katze wollte ihm gleich mit der Zunge das Gesicht ablecken.“ So verhalten sich nur Hunde oder Waschbären.
Zwischen den Zeilen dieses Textes fließt ein gewaltiger Mahlstrom von Tränen, auf dessen Wellenkämmen ungezählte Klöße tanzen, die alle zwanzig Seiten an die Textoberfläche steigen und sich im Hals der Figuren festsetzen. In diesem Roman herrscht erhöhtes Klopsaufkommen. Nur der Herzmuskel drängelt sich ähnlich oft in den Textkörper wie der Kloß in diese unverdauliche Klopsbrühe aus Tränenfonds. Alle zehn Minuten ist Turnstunde im Brustkasten: „Die Harmonie war wiederhergestellt, und sein Herz machte einen freudigen Sprung.“ Dazu gesellt sich noch das chronische Gefühl des sprichwörtlichen „Schlages in die Magengrube“. Mehr Worte findet Wesley Wilson auch schon nicht für das begrenzte Gefühlsspektrum ihrer Figuren.
Unergründlich sind die Proportionen der prästabilierten Harmonien, aber wofür hat man Künstler wie Eva oder Wilson Wesley: „Nun trug er kurze Dreadlocks, die ihm bei der Arbeit reizvoll über die Augen fielen und sein Gesicht betonten, das auf klassische Weise gut geschnitten war. (Das fiel der Künstlerin in ihr auf.)“ In den muskulösen Armen des Avantgarde-Trompeters findet Eva wieder zurück zu verloren geglaubter künstlerischer Inspiration. Der Jazzer bringt die gesamte Tonleiter ihrer Talente zum Erklingen. Wilson Wesleys Diskurs über Kunst und Ästhetik klingt nach Begleitheft zum Workshop „Therapeutisches Malen nach Zahlen.“
Die Figuren dieses Romans kennen nicht mehr Gesichtsausdrücke als der frühe Pac-Man. Ihre Augen sind Teleprompter, über die ohne Unterbrechung tagesaktuelle Nachrichten aus ihren hintersten Seelenwinkeln laufen. Besonders schöne Momente erhaschen Wesley Wilsons Prosa-Larven mit Hilfe ihres dichten Wimpernkäschers und versuchen, sie hinter fest geschlossenem Lid festzuhalten; - ganz lang, bis sie sich tief in die Hirnrinde haben brennen können, um so ihre Haltbarkeitsdatum zu verzehnfachen. Dann darf der Moment wieder heraus und in einem Eso-Café, einer Jazz-Spelunke oder einem lichtdurchfluteten, postkoitalen Schlafzimmer herumflattern.
Ihren Charakter beziehen die Menschen bei Wilson Wesley nicht aus Bildung und Erfahrung, sondern erben ihn en bloc inklusive diverser Körperfragmente von ihren Ahnen. Ohren werden von den Großmüttern vererbt, der feurige Blick von der Patentante ersten Grades und das sanfte Herz von der Mutter, immer von der Mutter. Nichts begeistert Wilson Wesley mehr, als den verschlungenen Wegen des Erbgutes entlang der Verzweigungen im Familienstammbaum nachzuspüren wie der Buntspecht dem Borkenkäfer. Ihre Ahnenforschung würzt sie mit halbherzigem magischen Realismus, lieblosem Voodoozauber und einer Prise Wurzelhexerei aus den Südstaaten. Die genetischen Bausteine des abgestandenen Prosa-Pools aller Dahingeschiedenen koagulieren nachts zu handfesten Traumgesichtern, die ihre jenseitigen Botschaften in die einfältigen Hirnwindungen aller noch Lebenden träufeln.
In ihren klarsichtigsten Momenten erkennen Wilson Wesleys Figuren ihr wahres Schicksal: „Mein Leben ist wie eine Geschichte aus einem langweiligen Buch.“ „Es bleibt alles anders“ ist harmoniesüchtige Wohlfühlliteratur für die kühlen Herbstabende, wenn der Rotwein im Glas seine samtige Blume entfaltet, das elektrische Kaminfeuer flackert und der Sturm mal wieder die überschäumende Satellitenschüssel voller seifiger Tele-Novellas aus der bröckeligen Verankerung gerissen hat. Wer allerdings nicht ausgesprochen gerne in den vergilbten Familienalben wildfremder Menschen blättert, wird dieses Buch unerträglich finden. Nicht einmal gescheite Koch- oder Häkelideen finden sich in diesem Frauenroman im übelsten Wortsinne. Wer möchte sich wirklich für die läppischen Seelenwehwehchen amerikanischer Mittelklasse-Spießer interessieren, die im Laufe ihrer serienmäßig implantierten Midlife-Crisis urplötzlich das wahre im falschen Leben als ein verkitschtes Disneyland der Offenheit, Aufrichtigkeit und tief empfundenen Zärtlichkeit begreifen?
Es ist immer wieder verblüffend, mit welcher Unverfrorenheit ein Groschenroman reinsten Rosenwassers als höhere Kunst auf dem Literaturmarkt positioniert wird. Der deutsche Sprachraum kennt so viele schreibende Talkmasterinnen, Autorinnen, die Prosecco trinken und Schriftstellerinnen, bei deren nächsten Männern und Büchern alles anders bleiben wird, daß man sich diesen US-Import getrost hätte sparen können.
Valerie Wilson Wesley: Es wird alles anders bleiben. Roman, Diogenes Verlag, Zürich 2001, 422 S., XX,YY DM