Gödel, Hitler, Quarks: Jorge Volpis Gedankenroman “Das Klingsor-Paradox” (FR, 07.03.02)
Unberechenbar ist der Weltenlauf, chaotisch das Universum. Wild schütteln die Pferdekopfnebel ihre zottigen Sternenmähnen in den Kosmos, durch das zentrifugale Wurmloch der Waschmaschine verschwindet immer mindestens eine Socke in der Altkleidersammlung der vierten Dimension, unterm Elektronenmikroskop ist die Hölle los, die Elementarteilchen machen die Welle und keiner weiß, ob die Marmeladenstulle gleich auf die Ober- oder Unterseite fallen oder in welcher Ecke des Teilchenbeschleunigers das Elektron nun seine wohlverdiente Brotzeit halten wird. Da hilft die gute alte Verschwörungstheorie, ein bißchen Ordnung in das Universum und die Geschichte zu bringen.
Ende der dreißiger Jahre: Der amerikanische Physiker Francis „nomen est omen“ Bacon ist ein genialer Taugenichts, will an seinem Ivy-League-Universitätsinstitut in Princeton inmitten von Einstein, Neumann und Co noch nicht so recht zum Zuge kommen, und zerfranst sich die Biographie im Spannungsfeld zwischen seiner wohlsituierten, aber neurotischen Verlobten Elizabeth und der schwarzen, heißblütigen Hure Vivien: „ihre Brüste waren wie Billardkugeln.“ Bacons Billard-Affäre fliegt auf, Elizabeth macht einen Skandal, das Institut entsorgt den jungen Physiker als Spion auf Europas Schlachtfelder. Der Junge muß raus in die Welt. Sounds like a typical German “Bildungsroman”, doesn´t it?
Nach Kriegsende geht Francis Bacon dem Verdacht nach, hinter der gesamten deutschen Forschung hätte eine einzige hauptverantwortliche Person gestanden, ein zeichnungsbefugter Atom-Mephisto mit dem wagnerianischen Decknamen „Klingsor“. Der junge Parsifal findet schnell Hilfe bei dem deutschen Mathematiker Professor Gustav Links, der auch der rückblickende Erzähler der Suche nach Klingsor ist. Mit Links besucht Bacon alle bedeutenden deutschen Wissenschaftler, die beim Namen Klingsor allesamt erbleichen. Doch die Uranväter halten dicht. Diese Gralsritter des Fortschritts strahlen in Volpis Porträts allein durch ihre Namen schon ordentliche Energiepakete von Aura ab und entwickeln Quant um Quant ihr faszinierendes Wirkungsquantum. Später stößt noch die mutmaßliche Kriegswitwe Irene zu dem Duo, und von da an geht alles nur noch bergab mit dem linkischen Links und dem Positronen-Parsifal.
Einstein löste seine Probleme mit Hilfe von Gedankenexperiment. Jorge Volpis Roman ist solch ein abstraktes Gedankenspiel und steht wie Douglas R. Hofstadters Kultbuch „Gödel, Escher, Bach“ in der Tradition der mathematischen und physikalischen Schnurren: Zenons Schildkrötengleichnis, das kretische Lügen-Paradoxon und Ernst Schrödingers Fabel vom gleichzeitig lebendigen und toten Katzenzombie. Volpis Thema ist die Anwendung der Quantentheorie auf die soziale und ästhetische Ebene: Von keinem Elementarteilchen, keinem Menschen und keinem Roman wissen wir, um welche Ecke er als nächstes biegen wird. Es gibt nur noch Wahrscheinlichkeiten. Überall droht Ungewißheit, Verrat und überraschende Kehrtwende in der Erzählung. Der Beobachter ist in seinem Bezugssystem gefangen, der Leser im Erzählsystem. Spannung erzeugt Volpi durch die beschränkte Perspektive eines Ich-Erzählers.
Nach eigenem Bekunden möchte der Autor mit seinen Texten die Genregrenze zwischen Essay und Fiktion auflösen. Mit dem „Klingsor-Paradox“ ist ihm das gelungen. So gut, daß sich die Dialoge wie die ungelenke Dramatisierung zahlloser wissenschaftlicher Monographien lesen. „Das Klingsor-Paradox“ ist die Schnittmenge von ungefähr zwei Dutzend Fachbüchern. So entsteht manch spröder Schlagabtausch zwischen den Wissenschaftlern, in denen Volpi noch einmal die gesamte Entwicklung der Quantentheorie aufrollt: „Danke, Feldwebel, Ihr Vortrag war von großem Wert für uns.“ Klappernd montiert Volpi seine Konzepte zusammen, die er die Figuren in unterschiedlichen Stimmlagen vortragen läßt: einer knurrt über die Bewegungskurve der Elektronen, der nächste kontert höhnisch lächelnd mit der kritischen Masse, Hinz beschwört flüsternd die Wellenmechanik, Kunz führt höhnend und dröhnend die Matrizenmechanik ins magnetische Feld; und matrizenmechanisch wird das Sagte-dieser-antwortete-jener-Spiel heruntergespult. Volpi wirft ähnlich viel Bildungsgut ins Publikum wie Günter Jauch in seiner Millionärs-Show: „Ich weiß nicht, ob sie schon einmal von Erwin Schrödinger gehört haben.“ Die Dialoge sind so spritzig wie auf dem Semester-Abschlußball der Kernphysiker.
Frauen benutzt Volpi nur als Stichwortgeber für seine wackeren Spindoctors des Fortschritts und als Alibi für die Vulgärfassungen der komplexen Theorien: „´Nein, Gustav, ich glaube, das Fräulein hat ein Recht darauf, unserer Unterhaltung zu folgen´, schnitt mir Erwin (Schrödinger) das Wort ab.“ Ansonsten dienen die Fräuleins den Hypothalamus-Heroen zur Entspannung in den Intervallen zwischen zwei Axiomen, knutschen mitten auf den Mund, wobei sie die problemgebeutelten Herren der Neutronen meist in den Wahn, wenn nicht schnurstracks ins Verderben streicheln. In den Haupthandlungsstrang um die Suche nach Klingsor sind dekorative Nebenhandlungsstränge eingeflochten, in denen sanft gezügelte Erotik mit bitterem Speichel, seidig wehenden Nachthemdchen, und schweißglänzenden Körpern pulsiert. Und zum Nachtisch salzige Tränen. Insgesamt braut sich um Volpis Frauengestalten besonderer Unsinn zusammen. Sie sind wie Schwarze Löcher, die allen Nonsens unweigerlich in ihrem Gravitationsfeld sammeln. Will sich eine einfach mal eine Zigarette anstecken, tönt es gleich: „Deshalb hatte sie das Streichholz entzündet: Sie hatte Sehnsucht nach ihrem feurigem Ursprung empfunden.“ Ach was. Die feurige Trümmerfrau hatte einfach nur Sehnsucht nach einem krebserregenden Lungenzug empfunden. Die Frauen sind in Volpis Roman fleischige Antipoden zum ätherischen Gedankenabenteuer, passen allein schon wegen ihres ausladenden Beckens in kein Koordinatensystem und sind sowieso züngelnde Natternbrut. Quod erat demonstrandum.
Aus Gründen einer spannenderen und effektreicheren Plotführung hat Volpi die eingeschränkte Perspektive eines Ich-Erzählers gewählt. Stilistisch hat er sich und seinem Leser damit keinen Gefallen getan. Im günstigsten Falle kann man behaupten, daß der Stil perfekt einem greisen, schrulligen, paranoiden Mathematiker der zweiten Garde angepaßt ist. Im ungünstigsten darf man vermuten, Volpis stilistisches Repertoire ist nicht breiter als das seines sprachlich verkalkten Erzählers. Über 600 Seiten hätte man jedenfalls gerne einen stilistisch etwas flexibleren Erzähler als den biederen Protokollanten Links, der in opihaftem Reader´s-Digest-Tonfall über die geschichtlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts parliert. Selbst Tänzerinnen von Weltrang entlocken ihm nur stammelnde Altherrensinnlichkeit: „Doch ich konnte nichts erwidern, ich war zu sehr in Ekstase, zu gebannt von Josephine Bakers gedrechseltem Haar und ihrer schweißglänzenden Haut.“ Flottere Dreier als in diesem Roman hat man auch schon gelesen.
So modern Volpis Themen sind, so bieder ist sein Erzählapparat. Während die Atomphysiker, Logiker und Mathematiker auf jeder Seite eine revolutionäre Theorie aus ihren Zahlenketten destillieren, gelingt dem Autor keine einzige originelle Perspektive auf seine Welt. Unberechenbar wie Quanten im Teilchenbeschleuniger schwirren all die originellen Bilder, verblüffenden Metaphern und intelligenten Vergleiche, die die Literatur noch bereithält, vor Volpi herum, doch zu fassen bekommt er keine. Die Wissenschaftler gehen neue Wege, der Autor verläßt niemals die ausgetretenen Trampelpfade stilistischer Gemeinplätze. Das große Abenteuer über die moderne Quantenphysik gehorcht noch den klassischen Newtonschen Gesetzen der vormodern quietschenden Erzählmaschinen:
Lesebeschleunigung = Textmasse / Cliffhanger2
Zwar verflicht Volpi geschickt dramaturgische Kniffe des Kolportage- und Spannungsromans und Theoriebrocken aus wissenschaftlichen Monographien, doch die sprachliche Oberfläche des Romans bleibt uninspiriert und klischeebeladen. Der pädagogische Mehrwert dieses Ideen-Romans ist hoch. Man lernt viel über moderne Physik. Der ästhetische Gewinn des ehrgeizigen Textes liegt jedoch einzig in seiner präzise berechneten dramaturgischen Kurve. Die Spannung ist groß und drängt einen glücklicherweise dazu, schnell über die Sätze hinwegzugleiten. Je schneller man liest, desto besser entfaltet der Roman seine Wirkung. Schneller als Lichtgeschwindigkeit allerdings geht bekanntlich nicht.
Im Programm eines literarischen Zirkels mit dem nicht eben wagnerianischen Decknamen „Crack“ hat sich Volpi gegen das epigonenhafte Reproduzieren von magischem Realismus gewandt. Sein Mißtrauen gegenüber dem sprachlichen Barock und der literarischen Opulenz hat ihn in das andere Extrem fallen lassen. Das „Klingsor-Paradox“ bleibt ein abstraktes Gedankenspiel, eine theoriebeladene Knobelprosa. Volpis Figuren sind nicht mehr als durchscheinende Ideenträger, und das Nachkriegsdeutschland bleibt hohl klingende Pappmaché-Kulisse, in dessen Zentrum immer die Holzkiste der Souffleuse zu sehen ist.
Warum die lateinamerikanische Intelligentzia Jorge Volpis raffiniert ausgeknobelten, aber sprachlich biederen und flachen Denksport-Roman sofort als Meisterwerk bezeichnet hat, bleibt rätselhaft. Gabriel Garcia Marquez begrüßt den neuen Kollegen in aller Bescheidenheit: „Ich möchte den einzigen Schriftsteller beglückwünschen, der besser ist als ich.“ Carlos Fuentes zieht sich zufrieden aufs Altenteil zurück: „Jetzt kann ich mich getrost zur Ruhe setzen, denn nun habe ich meinen Nachfolger gefunden.“ Guillermo Cabrera Infante resümiert: „Ein Meisterwerk.“ Auch diese Gralsritter scheinen ihren Parsifal gefunden zu haben. Volpi ist mittlerweile mexikanischer Kulturattaché in Paris. Eine Verschwörung? Das Volpi-Paradox.
Jorge Volpi: Das Klingsor-Paradox. Roman, Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange, Klett-Cotta, Stuttgart 2001, 511 Seiten, 49,00 DM