Verrückte Zuckerwattenexplosionen. T. C. Boyle wirft die Wie-Maschine an: “Schluß mit cool” (SZ, 17.04.02)
Wer das Gefühl hat, seiner Prosa den letzten Schliff geben zu müssen, kann an der University of Southern California unter der Leitung von T. C. Boyle ein Ph. D. in Creative Writing absolvieren. Seit 1977 unterrichtet der Romancier und Verfasser von Short Stories in Los Angeles amerikanische Schreibtechniken. Wer jedoch zu viel Angst vor Erdbeben, Elektrizitätsausfällen und rivalisierenden Downtown-Gangs hat, kann auch einfach T. C. Boyles neueste Sammlung von Kurzgeschichten lesen. Die sechzehn Short Stories transportieren alle Tugenden der ungebremsten amerikanischen Fabulierfreude und sind exemplarisch für die amerikanische Workshop-Doxa.
In jeder einzelnen dieser Kurzgeschichten spürt man Boyles unmittelbare Nachbarschaft zu Hollywood. Ohne großen kompositorischen Aufwand ließen sich alle Texte in ein Drehbuch umschreiben. Boyle packt das zappelnde Leben in einem besonders dramatischen, exemplarischen oder allegorischen Moment am ängstlich gesträubten Nackenfell und sperrt es zwischen sein Zeilengitter, wo er mit seinem Opfer lustige Experimente veranstaltet. Bleibt die Frage, ob das Leben im echten Leben überhaupt so viel zappelt. Boyles Sammlung wirkt eher wie ein narrativ aufbereitetes Best-of aus einer Dekade von Meldungen aus dem Zeitungsressort für Vermischtes.
Man hört geradezu den Professor Boyle, wie er seinen Studenten zum Abschluß ihres Creative-Writing-Semesters noch eine letzte Arbeitsmaxime mit auf den steinigen Weg der Kreation gibt: „Well, folks. Und jetzt vergeßt alles, was ich euch beigebracht habe und lest einfach nur jeden Tag die Vermischtes-Seite. Da steht alles drin.“ In einer Geschichte über einen Feierabendautoren parodiert Boyle seine eigene Arbeitsmethode: „Mein Problem ist, daß ich nicht über die ursprüngliche Idee – die Einleitung – hinauskomme, eine Geschichte, die ich vor zwei, drei Jahren mal in der Zeitung gelesen habe.“
Mit herzerweichender Willkür wählt Boyle seine dramaturgischen Extremsituationen aus. Das Grundmuster der Konflikte ist immer wieder die Gegenüberstellung von möglichst gegensätzlichen Charakteren. In Alaska werden bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung Dates mit kalifornischen Frauen versteigert: rauhbeinige Hilly Billies in flusigen Holzfällerhemden treffen auf knackige East Coast Girls. Eine verbissene Triathletin führt eine gestörte Beziehung mit einem trinkenden, motivationsarmen Surf-Slacker. Ein manischer Einsiedel verliebt sich in eine sorglose Exhibitionistin, die in einem Haus voller Web-Cams lebt und ihre Privatsphäre einer voyeuristischen Abonnement-Gemeinde verkauft.
Manchmal pfercht der Autor gleich mehrere Problemkinder in einen engen Laufstall, bis all das geballte Konfliktpotential seine Story sprengt: Ein ehemaliger Kokser kommt zwecks sozialer Eingliederung zu seinem älteren Bruder, der eine gynäkologische Klinik betreibt, vor deren Toren hartnäckige Abtreibungsgegner so lange protestieren, bis der Ex-Kokser Amok läuft und unter Tabletteneinfluß ein paar Demonstranten erschießt: „Ich war nämlich bewaffnet.“
Das ist schön. Nur schade, daß nicht noch ein schwuler Pastor mit Hirntumor in der Geschichte vorkommt. Boyle hat es gerne ein, zwei Nummern zu groß. Er zeigt nicht einfach nur das Zerbrechen einer Jugendliebe, sondern schildert gleich, wie zwei Teenager ein ungewolltes Baby in den stinkenden Müllcontainer werfen, verhaftet werden und sich dann gegenseitig den Prozeß machen. Das ist der Stoff, aus dem Bild-Schlagzeilen sind. Boyle hat das lakonische Genre der klassischen amerikanischen Short Story in eine betont verrückte Zuckerwattenexplosion verwandelt.
All seine Scherenschnitte tragen noch die löchrigen Spuren an jenen Stellen, wo der Autor sie an sein Reißbrett geheftet hat. Die Figuren sind nur hölzerne Bauernopfer in abstrakten Fingerübungen und gezwungenen satirischen Kabinettstückchen. Die Plots wirken zu konstruiert, um aus dem prallen leben gegriffen zu sein, von dem sie vorgeben zu handeln. Boyles Weltsicht ist streng dichotomisch. Das mag dramaturgisch bequem und effektiv sein, bringt jedoch keine psychologisch komplexen Prosawelten hervor. Der Leser dieser Texte bekommt den Eindruck, daß die Short Story mittlerweile eine ziemlich leere Formenhülse ist, die in der Prosa ihre Schuldigkeit getan hat wie das Sonett in der Lyrik. Es braucht schon sehr viel Experimentierfreude, um diese starre Form wiederzubeleben. Sonst bleibt sie einfach nur ein zuverlässiger Textgenerator für den Schreib-Workshop.
T. C. Boyles stilistisches Markenzeichen ist der extravagante Vergleich, das schräge Bild und die skurrile Metapher. In einer Art literarischem Fordismus produziert dieser Autor Bilder am laufenden Band. Es scheint fast schon ein Pawlowscher Reflex zu sein. Das rätselhafte Namenskürzel T. C. kann eigentlich nur für Tertium Comparationis stehen. Unermüdlich befördern die Schaufeln der ratternden Wie-Maschine poetische Rohmasse zwischen Boyles Zeilen. Mit seinen skurrilen Bildern appliziert der Autor tatsächlich manch originellen Zierat an seine wackeligen Prosafassaden. In seinen besten Momenten bekommt Boyle das zweite Gesicht, mit dem er die Poesie hinter den Kulissen entdeckt. Oft offenbart sie sich in verblüffenden optischen Eindrücken, was Boyles Texten wiederum etwas Filmisches verleiht. Sieht man einmal von der schematischen und sehr gekünstelten dramaturgischen Tiefenstruktur dieser Short Stories ab, läßt sich ihre phantasievolle sprachliche Oberfläche durchaus genießen. Die Situationen sind meist albern, ihre Schilderung jedoch ist humorvoll.
Vor allem aber hat diese Sammlung einen unbestreitbaren pädagogischen Wert. Aus T. C. Boyles Erzählungen lassen sich die zehn goldenen Regeln der total verrückten, poppigen und quietschvergnügten Short Story ableiten. So entsteht ein Kanon, der als hervorragendes Arbeitsmaterial für ein Fernstudium des American Cool an der University of Southern California dient:
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Wen interessiert der bescheuerte Kassierer am Geldschalter? Schreib über den Bankräuber.
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Lade eine Person mit positiver, eine zweite mit negativer Energie auf, stecke sie in einen Fahrstuhl oder Wellness-Tank, und dann laß es krachen. Laß es verdammt noch mal so richtig krachen, Compañero.
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Zieh dir zehn Stunden lang Backstage-Interviews mit Gangsta-Hip-Hoppern rein. Dann liest du eine Seite aus Salingers „Fänger im Roggen“, und erst danach schreibst du deine Dialoge. Versteht ihr Crack-Heads da draußen, was ich meine? Ich wünschte, ihr wüßtet nur ein kleines bißchen, wie es in meinem Kopf zugeht.
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Wenn dein Held vom Klo in die Küche geht, beschreibe den Flur. Im Flur liegt die Wahrheit. Vergiß auf keinen Fall zu erwähnen, daß das Telefontischchen aus lackiertem Palisanderholz ist. Vertiefe dich in seine hypnotische Maserung, beschreibe die Wasserringe auf seiner Oberfläche und leite von da aus einfühlsam, aber witzig auf den zivilisierten Nachmittag-Alkoholismus der Mutter deines Helden über.
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Eine Rose ist keine Rose ist keine Rose. Sondern ein zerrupftes, durch beschissene NATO-Stacheln geschütztes Chlorophyll-Endlager, das aussieht, als hätte fuckin´ Bugs Bunny sich seine Blume in Erdbeerkaugummi-Rosa gefärbt und danach vergessen, sie zu kämmen, Himmel Arsch und Zwirn.
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Wenn du plötzlich eine Schußwaffe für deinen Helden brauchst, nimm sie einfach aus seinem Nachttischchen. Da liegt immer eine.
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Die Munition ist eine Schublade tiefer, zwischen den Socken.
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Damit auch der allerletzte Amazon.com-Kunde in Obertupfenhausen ob der Schnulpe noch versteht, daß du hier der Hipster bist und niemand sonst, druckst du einfach ein paar Worte in Kursivschrift hin. Ich meine kursiv, so richtig kursiv. Erst dann klingst du im inneren Ohr des Lesers wirklich wie Robert de Niro.
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Versuch doch einfach mal, eine kleine Geschichte aus der Perspektive des unterernährten Putzerfisches im veralgten Wohnzimmeraquarium einer schwangeren Serienkillerin aus einem Industriegebiet zwanzig Kilometer vor New Orleans zu schreiben. Es bringt ziemlichen Spaß, und ich meine, versuchen kostet ja nichts.
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Laß alles von Werner Richter übersetzen. Er kann es.
Diesem Kanon möchte man allerdings nach knapp vierhundert Seiten von einer zugegebenermaßen ziemlich eurozentrischen Warte aus eine elfte Regel hinzuzufügen: Schluß mit cool!
T.C. Boyle: Schluß mit cool. Erzählungen, Aus dem Amerikanischen von Werner Richter, Carl Hanser Verlag, München Wien 2002, 392 Seiten, 19,90 Euro