Das zweite Buch Hiob. Nikola Anne Mehlhorns Erzählung “Sternwerdungssage” (Tagesspiegel, 21.04.02)
Hiob ist ein frommer Mann. Gott auch, aber manchmal hat er Langeweile. Dann geht er ins Wettbüro. So schließen Gott und Satan eines Tages eine Wette über Hiob ab. Satan darf den reichen und frommen Hiob prüfen und quälen. Denn Gottvertrauen ist einfach, wenn es dem Menschen gut geht hienieden. Brenzlig wird es, wenn die Kamele verenden, die Schafe verscheiden, die Eselinnen umkippen, Frau und Kinder verröcheln, die eigene Haut in polychromen Geschwüren erblüht und der Hof abbrennt: „Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: was gilt´s, er wird dir ins Angesicht absagen.“ (Hiob 1, 11)
Satan wird also den reichen Hiob mit Unglück überschütten. Gott wettet, daß Hiob nicht vom Glauben abfällt. Satan hält dagegen. Wer gewinnt, steht im Alten Testament. Hiobs unerschütterliche Gottesfurcht wurde zur Chiffre für den geprüften Gläubigen, der auch in größter Not nicht vom Glauben an seinen Herrn abläßt. Während des Holocausts wurde Hiob zur emblematischen Figur für viele gläubige Juden. Goethe hat sich vom Buch Hiob zur Einführungswette im ersten Teil seines „Fausts“ inspirieren lassen und Nikola Anne Mehlhorn ganz offensichtlich zu ihrer Erzählung „Sternwerdungssage“. Sie hat ihrem Text einen Vers aus dem Buch Hiob vorangestellt: „Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Schreien finde keine Ruhestatt!“
Auf einem stattlichen Gehöft in Norddeutschland erschießt sich ein jüdisches Ehepaar. Die Tochter bleibt nordisch kühl und gelassen: „Plötzlich ertönten zwei Schüsse im Haus. Ich trank das Grogglas aus und stellte es ab.“ Die Sanitäter kommen zu spät, aber es reicht trotzdem noch für den Beginn einer großen Liebesgeschichte. Die Tochter und Ich-Erzählerin verliebt sich über den noch warmen Leichen ihrer Eltern in den Rettungssanitäter Ole. Von diesem Moment an dürfte die Autorin alle Leser mit schwarzem Humor auf ihrer Seite haben. Der Rest muß halt das Buch nach drei Seiten weglegen.
Irgendwann trifft jeder auf seinen ganz persönlichen Satan. Ole ist ein Teufel: „Daß Ole einen Klumpfuß hatte und die ganze Küche nach Pech und Schwefel roch, bemerkte ich nicht.“ Der globale Weltgefühlshaushalt ist auf Gleichgewicht bedacht, und das frische Paar tritt schnell an die Stelle der verstorbenen Eltern und richtet sich in deren Schlafzimmer ein. Die Liebe ist unberechenbar wie ein Fluch, wirkt jedoch belebend auf das Sprachgefühl: „Ich blickte Ole an, und die Liebe schwappte so hoch in mir, daß ich geplatzt wäre, hätte ich sie nicht durch Küsse ableiten können. Im Schlafzimmer waren wir bald barfuß bis zum Hals.“ So weit, so charmant. Ole zieht stehenden Klumpfußes in das Gehöft ein, und verströmt sexy Schwefelgerüche. Doch diese Liebe steht unter keinem guten Stern. Es geht rapide bergab. Die karge Kulisse des großen „Gutshauses auf der Griesenwarft“ erinnert an das flüchtig skizzierte Gehöft des biblischen Hiobs „im Lande Uz“.
Die namenlose Ich-Erzählerin avanciert zur diplomierten Astronomin und bekommt einen klaren Auftrag von der örtlichen Sternwarte. Sie möge doch bitte einen Gottesbeweis führen. Kein Problem: „Am kommenden Tag erfand ich an der Norderkooger Sternwarte das Deuskop.“ Die Astronomin beobachtet den Kosmos und ihr eigenes Schicksal mit der gleichen analytischen Kühle. Eines Tages entdeckt sie den Thron Gottes. Da ist er, ganz scharf im Okular des Deuskops, kein Zweifel. Dekoriert mit ein bißchen Engelshaar, hier eine Harfe, dort ein Stern. Nichts Spektakuläres, nur den Thron Gottes. Leider leer. Und bald ist auch ihr Bauernbett leer. Gott ist tot und die Liebe röchelt auch schon. Ole wird ihr untreu und das bäuerliche Liebesidyll zum Martyrium.
Nikola Anne Mehlhorn erweist sich als eine Meisterin lakonischer Kurzportraits: „Ole war kein guter Mensch; sein Reden wich von seinem Tun ab.“ Ihre Ungerührtheit schreckt vor biestiger Grausamkeit nicht zurück. Über die tote Mutter heißt es: „Sie hatte viel und gerne gedichtet. Hätten wir gewußt, daß sie so früh sterben würde, hätten wir es vielleicht gelesen.“ Obwohl die Autorin Unglück an Unglück reiht, wird sie niemals pathetisch oder sentimental. Hintertriebene Andeutungen sind ihr genug. Von Oles unkontrollierbarem Triebleben auf Autovordersitzen erfährt die Astronomin durch einen versehentlich ausgelösten Airbag, der nach dem Akt wie eine vorwurfsvolle Flagge der Unzucht aus dem Armaturenbrett schlabbert.
Die Autorin überschüttet ihre Hauptfigur mit Leid wie der Leibhaftige den gläubigen Hiob. Die Heldin wird schwanger und von Ole verlassen, hat eine Totgeburt, wird von Neonazis belästigt, überfährt Oles neue Frau und wird schließlich Opfer der ländlichen Lynchjustiz. Nun ja. Man muß diese absurde Kette von unglücklichen Ereignissen vor dem Hintergrund des Buches Hiob lesen, sonst wirken sie wie eine besonders wüste Tom-und-Jerry-Folge im Schnelldurchlauf. Macht aber auch nichts, denn dieser Slapstick entschärft ein wenig das Drama. Schon der Titel verweist auf das besondere Genre des Textes. Man liest keine realistische Prosa, sondern eine Sage. Die Autorin scheint mit ihrer „Sternwerdungssage“ den Entstehungsmythos eines unbekannten Sternbildes erzählen zu wollen, die Geschichte der traurig am Nachthimmel flimmernden Frau Hiob.
Mehlhorn gelingt das Kunststück, ein im Resümee recht hanebüchen erscheinendes Erzählgerüst in ein sehr originelles Stück Prosa zu verwandeln. Die etwas aufgesetzt wirkende Neonazi-Groteske gegen Ende des Textes wird dank des Mitschwingens der Hiobsgeschichte noch einigermaßen tolerabel. Ein moderner Satan würde dem heutigen Mustergläubigen eben auch ein johlendes Rudel Faschisten schicken, kein Zweifel. Der Text ist musikalisch komponiert und arbeitet geschickt mit Refrains und Echos. Er ist gespickt mit amüsanten und skurrilen Intermezzi, Geschichtchen und Apparaturen, u. a. auch einem „Volksdeuskop“, das nach Münzeinwurf schnurrend das Bild des Gottesthrones aus dem Kosmos zieht.
Eine literaturgeschichtliche Novität dürfte die Neubesetzung der klassischen griechischen Chorfunktion durch einen sprechenden Hahn sein. Das weise Tier kommentiert zur Futterzeit alle Tragödien mit locker gegackerten Binnenreimen, bis es eines Tages tot von der Stange fällt. Doch vorher explodiert noch ein Huhn, und die Haushälterin weiß auch, warum: „Da muß der Vaterhahn auf das Tochterhuhn gesprungen sein. Und das sündige Ei ist wegen der Sünde noch im Tochterhuhn explodiert. Mein Mann hat immer gesagt: Sünden rächen sich! Einpräg dir das!“ Einprägen wir uns. Solche Verfremdungseffekte und die ungerührte Distanz, mit der die Erzählerin ihre Geschichte vorträgt, färben selbst die düstersten Passagen eigenartig mit schwarzem Humor ein. Die diplomierte Astronomin scheint sich selbst und ihre Umwelt durch ein umgedrehtes Teleskop zu beobachten. So schöpft Mehlhorns Stil seine befremdliche Originalität aus bizarren Verzerrungen.
Die „Sternwerdungssage“ zeugt von dem Versuch, Würde zu wahren in Zeiten denkbar größten Unglücks. Die letzte Waffe gegen das Elend ist der Stil. Unpathetisch, distanziert und originell. Der Thron des Allmächtigen ist verwaist, um seine prunkvolle Rückenlehne pfeifen kosmische Winde, Gott kauert in Handschellen in einer Rumpelkammer der Hölle, die Liebe ist ein böser Fluch, Haus und Hof brennen lichterloh, die Nachbarschaft ist ein neofaschistisches Pack, und Nikola Anne Melhorn schreibt ein sehr schönes Buch.
Nikola Anne Mehlhorn: Sternwerdungssage, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2002, 80 Seiten, XX, YY Euro