Stephan Maus

Marcel Theroux: ‘Wer war Patrick March?’ (FAZ)

Reif für die Insel - Marcel Theroux’ biographische Scharade “Wer war Patrick March?” (FAZ, 25.07.02)

Damien March ist fünfunddreißig und hat in der Halbzeit seines Lebens die Partie schon fast aufgegeben. Nachts schreibt er beim BBC kurze Texte, mit denen der Moderator die eigentlichen Nachrichtenmeldungen und Reportagen einleitet. Er verfaßt immer nur Vorworte zum täglichen Geschehen. Sein Leben kommt aus dem Ticker, nachts um halb drei, wenn ganz London schläft. Die ewigen Nachtschichten zehren an Damiens Energiereserven, die Karriereleiter hat er schon lange in die biographische Abstellkammer verstaut, seine Freundin hat ihn irgendwann verlassen, eine kleine Kurzmeldung im Lebenslauf, irgendwo unter der Rubrik „Vermischtes“. Ein bißchen Human Touch, nicht zu viel. Doch irgendwann im Leben eines Nachrichtenmannes muß die große Meldung kommen, die unverhofft allem eine neue Bedeutung gibt. „Patrick tot, Vater“ ist die Information, die Damien Marchs Welt verändert. Der Tod seines Onkels Patrick March weckt bei Damien Kindheitserinnerungen und reißt ihn aus dem Alltagstrott.

Die Reise zur Beerdigung auf der kleinen Insel Ionia vor dem Cape Cod in Massachusetts, USA wird für Damien zur Fahrt in die Vergangenheit. Als er sich auch noch als Erbe des Anwesens seines Onkels herausstellt, ändert er sein Leben. Damien hat genug von einer Existenz aus lauter Vorworten und will nun endlich zum ersten Kapitel schreiten. Er kündigt seinen Job, verabschiedet sich von einem sehr begrenzten Freundeskreis, eigentlich eher einem Freundesdreieck, und verläßt das graue London in Richtung Amerika, um in dem geerbten Kapitänshaus mit Meeresblick zu einem neuen Leben zu finden. Der verstorbene Patrick March war ein recht erfolgreicher Schriftsteller und hat seinem Erben ein schönes altes Landhaus randvoll mit grotesken Gegenstände hinterlassen. Der Erbe hat die Auflage, nichts in dem Haus verändern zu dürfen. Patrick hat Damien zu seinem Nachlaßverwalter gemacht. Sein durcheinandergewürfeltes Sammelsurium erscheint immer mehr wie ein raffiniert komponierter Rebus, hinter dem sich ein Geheimnis verbirgt.

Als Damien noch ein Kind war, veranstaltete der Onkel mit ihm Schnitzeljagden: „Einmal ergab jeder Hinweis ein Stück von einer Karte, die mit brauner Tinte gezeichnet und mit Kerzenruß auf alt getrimmt worden war. Andere basierten auf Bildern oder Rätseln: ´Ihr suchtet im Norden und in der Rund´, nun sucht nach dem Hinweis in des Genies Mund´ führte unvergeßlicherweise zu einem Papierknäuel, das Patrick vor lauer Gelächter kaum noch in seiner Wange verbergen konnte.“ Schon damals war das Ziel der Jagd das Verschmelzen des Schriftstellers mit seinem Text. Damiens Aufenthalt auf der Insel im Atlantik wird zur biographischen und schließlich auch zur autobiographischen „Schnitzeljagd“, wie der Originaltitel des Romans sehr treffend lautet. Der Nachlaß des Schriftstellers erweist sich als kunstvoll arrangiertes Puzzle für den testamentarischen Erben.

Marcel Theroux vermischt in seinem Roman geschickt die Chronik einer gemäßigten Lebenskrise mit den Topoi des Spannungsromans. Diskret läßt der Autor Thriller-Motive anklingen, so daß der Leser sich in jedem Kapitel auf eine verblüffende Enthüllung gefaßt macht. Skurrile Sammlerstücke aus Marchs Nachlaß erscheinen wie Beweisstücke in einem undurchsichtigen Indizienprozeß. Auf dem Schreibtisch des Dichters thront ein Totenkopf, Inselgerüchte kolportieren mysteriöse Sterbefälle, eine verdächtige Gestalt huscht durch eine stürmische Nacht, teuer gekleidete Damen überreichen verloren geglaubte Dokumente und eindrucksvolle Schecks, und im Landhaus fehlt eines Nachts plötzlich die Eingangstür. In den Schubladen und Karteikästen des Schriftstellers findet Damien lückenhafte Manuskripte, die wie verschlüsselte Geständnisse des verschrobenen Einzelgängers Patrick erscheinen und Damien auf immer neue, abenteuerlichere Spuren setzen. Die entscheidenden Schnitzel in dieser vom Schriftsteller organisierten Jagd sind immer aus Papier. Theroux reichert seinen Text mit einer zweiten Erzählstimme an, indem er Auszüge aus Patricks Manuskripten in Damiens Ich-Erzählung einfügt.

Die Versatzstücke der Thrillerliteratur machen den Roman zu einer spannenden Lektüre. Die Verdachtsmomente entpuppen sich immer wieder als falsche Fährten, denen die angeregte Phantasie des Helden und des Lesers nur zu gerne bereit ist zu folgen: „Schon allein der Name war ein Funken, der eine Schwarzpulverspur aus lauter Assoziationen in meinem Gehirn entzündete.“ Damiens Jagd nach der Identität des Patrick March verwandelt sich nach und nach in eine Erkundung seiner eigenen Biographie. Im Keller wartet keine Leiche, sondern die eigene Kindheit. Mit den klassischen Mitteln des Whodunnit komponiert Theroux die Erzählung einer Selbsterkundung. Die stetige Annäherung an die Biographie des schrulligen Autoren-Onkels bewahrt Damien schließlich vor einem Leben als schräger Kauz. Nach seinen Inselabenteuern kehrt er zurück nach London, findet Gleichmut, Ausgeglichenheit und eine Frau. So schlummerte im Nachlaß des Patrick March Damiens höheres Ich. Mehr soll von der Pointe des Romans nicht verraten werden.

Es gelingt Theroux nicht nur, eine konstante unterschwellige Spannung in seinem Text zu halten, sondern Damiens Abenteuer auch noch in einer sehr sommerlichen Inselatmosphäre erstrahlen zu lassen. Das Licht, der Wind und die scharfkantigen Schatten sind ein heilsamer Kontrast zu Damiens Londoner Nachtschichten in Neonschein und muffigem Kantinendunst. Die atlantische Insel Ionia ionisiert Damiens Lebensakku. Theroux beherrscht das klassische Erzählhandwerk aus dem Effeff. All seine Charaktere sind lebendig, die Dialoge flott, die Bilder und Vergleiche originell, und die Landschaftsbeschreibungen laden ein zur Mentalreise. Theroux hat eine Begabung für die schnelle Pointe und das lässig dahingeworfene Bon Mot: „Aber, seien wir ehrlich, das menschliche Herz gibt es nur in einer Konfektionsgröße. Keiner hat das Monopol auf Unglück.“

Der Autor hat mit seiner Inselerzählung alle Klippen des ästhetischen Wagnisses mit sicherer Hand umschifft. Doch da sein Roman von notwendigen Sprüngen ins Ungewisse handelt, könnte man dem Text vorwerfen, in ästhetischen Gewißheiten zu verharren. Theroux´ freundlicher Roman ist ein wenig harmlos und bieder. In seiner glücklichen Inselkindheit spielte Damien auf dem Anwesen seines Onkels ein Spiel, bei dem es galt, von einer rutschigen Klippe in den eiskalten Atlantik zu springen und kurz vor dem Eintauchen den rätselhaften Satz „Klarer als Mandingo“ zu rufen. Dieser Satz mit Orson Wellscher „Rosebud“-Qualität entstammt einer Besprechung von einem der Romane Patricks und wird Damien später zur Losung für das mutige Eintauchen ins Ungewisse. „Wer war Patrick March?“ ist ein sehr unterhaltsamer Roman. Aber er ist nicht klarer als Mandingo.


Marcel Theroux: Wer war Patrick March? Roman, Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Verlag C. H. Beck, München 2002, 269 Seiten, 18,50 Euro