Stephan Maus

Thekla Heineke & Sandra Umathum (Hg.): ‘Christoph Schlingensiefs Nazis rein’ (SZ)

Christoph Schlingensief tanzt den Adolf Hitler: “Nazis rein / Nazis raus” (SZ, 29.08.02)

Im Frühling 2001 inszenierte Christoph Schlingensief am Zürcher Schauspielhaus Gustaf Gründgens Fassung des „Hamlet“ von 1963. Für das Stück engagierte er neben klassischen Schauspielern auch mehr oder weniger aussteigewillige Neonazis. Der Ansatz war gewagt: deutsche Neonazis werden in die neutrale Schweiz exportiert, um dort durch therapeutisches Theaterspielen wieder resozialisiert zu werden. Oder sollte doch eher die Gesellschaft resozialisiert werden? Schlingensiefs Dramaturg Carl Hegemann war begeistert: „Die Schweiz liefert dafür ein günstiges Umfeld. Denn hier wurden keine Juden vernichtet, gibt es keinen offenen Rassismus und alles wird vorblildlich mit Geld geregelt. Vor dem Geld sind alle gleich.“

Die Schweiz sollte auch mal echte Nazis sehen, nicht immer nur Nazigold und geschmeidige Rechtspopulisten. Die Eidgenossen waren nicht so begeistert. Schlingensief provozierte einen Skandal. Schnell wurde klar: Es ist was faul unter der Schweizer Käseglocke. Hamlets Wahn griff um sich wie ein Flächenbrand, und schon bald nahm der Skandal um die Inszenierung Shakespearsche Ausmaße an. Geradezu unheimlich sind die Energie und der dramaturgische Instinkt, mit denen Schlingensief im Auge eines brodelnden Skandals agierte und dabei sämtliches Geschrei zu einem sehr stimmigen Gesamtkunstwerk zu bündeln verstand.

Schlingensief hat ein besonderes Strukturmerkmal des Hamlet-Dramas auf seine Inszenierung angewandt. Im III. Akt arbeitet Shakespeare ein kleines Theaterstück in das eigentliche Theaterstück ein. Die Schauspieler spielen Schauspieler, die mit ihrer Darbietung der Handlung eine neue Wendung geben. Die Gesellschaft der Schauspieler spiegelt die höfische Gesellschaft. Schlingensief hat dieser verschachtelten Struktur noch eine Schicht hinzugefügt und seine Hamlet-Inszenierung in ein allumfassendes Medientheaterstück eingebettet. Er hat das Theater im Theater nach außen gestülpt. Das Medienspektakel umgab die Inszenierung wie eine große Blase, und Gesellschaft und Theater spiegelten sich gegenseitig.

Der Lärm um den Zürcher „Hamlet“ war enorm und dazu noch sehr aufschlußreich. Sogar der Pop-Theoretiker Diedrich Diedrichsen, der ohne mit der Wimper zu zucken Wörter wie „Weirdos“ in seiner Theater heute-Besprechung plazierte, fühlte sich provoziert. Sämtliche Medien ereiferten sich über Schlingensiefs Dreistigkeit, waschechte Neonazis in der sauberen Schweiz Shakespeare spielen zu lassen. Ob Leserbriefseite der Boulevardpresse, Hörertelephon der interaktiven Talkrunde oder Presseerklärung des SVP-Politikers Christoph Blocher: Der Kommunikationsguerillero Schlingensief hatte alle Kanäle besetzt. Das Einzige, was in dem umfassenden Medienspektrum noch fehlte, war ein umfassender Materialband aus renommiertem Hause, der diesen skandalösen „Hamlet“ noch einmal von allen Seiten beleuchtet.

Thekla Heineke und Sandra Umathum haben ihn nun für die Edition Suhrkamp zusammengestellt. Der phantasievoll gestaltete Band läßt keine Frage zu dem Theaterprojekt offen. Jeder kommt zu Wort, ob Verteidiger oder Gegner der Inszenierung. Hamlets Wahn löst ein skurriles Stimmengewirr aus: Die Nazi-Braut bekennt unverblümt, daß sie bei schachernden Menschen an Juden denken muß; daß sie trotzdem Jeans trägt, obwohl diese von dem Juden Lewis erfunden wurden, hält sie schon für liberal. Der Boulevard stammelt, der Theaterkritiker wirft seine Theoriemaschine an, der Politiker seine Jargonmühle, und der (Ex-?)Nazi berichtet von seiner Bekehrung, wobei seine Sprache immer noch seinen harten ideologischen Kern bloßlegt.

Dieser anarchisch collagierte Materialband ist ein fesselnder Hamlet-Roman geworden. Die Fülle der Dokumente liest sich so spannend wie ein Krimi. Denn im Zentrum aller Dokumente steht sehr bald die Frage, ob die Aussteiger sich nun tatsächlich von ihrer rechten Ideologie losgesagt haben oder ob Schlingensief ihnen nur ein neues Agitationsforum für ihre Umtriebe geboten hat. Die Konzeption dieses Bandes unterstreicht diese Schlüsselfrage sehr geschickt, indem die Herausgeber ins exakte Zentrum des Buches einen Essay über den Verdacht gesetzt haben. So wie im Kern von „Hamlet“ der Verdacht und der Zweifel stehen, lauert im Zentrum von Schlingensiefs Inszenierung die Ungewißheit über die Rolle der Neonazis. Was ist passender, als in einer Hamlet-Inszenierung globalen Zweifel zu säen?

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. „Nazis rein“ versammelt Dokumente zu der umstrittenen Inszenierung. „Nazis raus“ sammelt Materialien zu dem noch viel umstritteneren Neonazi Torsten Lemmer, der innerhalb der schauspielernden Aussteiger als charismatische Führernatur waltete. Lemmer ist eine unangenehm schillernde Figur aus der rechten Szene in Düsseldorf. Er war Europas größter Produzent von Skinrock. Von seiner Musiktitelliste konnte man sich zum Beispiel die CD „Es lebe das Reich“ der Gruppe Foierstoß bestellen. Auch die übrigen Titel klingen nach entspanntem Brainstorming in der Wolfsschanze am Ende eines harten Tages voller Völkervernichtung und Massenerschießung.

Scheinbar hat sich Lemmer im Zuge von Schlingensiefs Inszenierung aus dem Nazirock-Geschäft zurückgezogen. Doch so recht wird man nicht schlau aus seinem undurchsichtigen Firmengeflecht aus Sonnenstudios, Immobilien und Verlagen. Brisanterweise hat Schlingensief Lemmer gleich mitsamt ergebener Entourage für die berühmte Schauspielszene im „Hamlet“ engagiert. Und in eben diesem Skandal liegt nun der dramaturgische Geniezug des Regisseurs. Er thematisiert die sehr zweifelhafte Rolle dieser Aussteiger. Spielen sie nur den Ausstieg oder ist er echt. Skin oder nicht Skin? Und was erzählt ihr Spiel über die Schuld der Zuschauer?

Gerade der sehr fragwürdige Torsten Lemmer mit seinen Millionendeals, seinen Machtansprüchen und seinem charismatischen Auftreten innerhalb der Aussteigergruppe gibt dem Materialband endgültig die Dimension eines wahren Königsdramas. Lemmer ist Schlingensiefs düsterer Widerpart. Im geschickten Umgang mit den Medien scheinen die beiden ähnlich talentiert zu sein. Schlingensief muß in dem schillernden Neonazi sein gespenstisches Double gesehen haben. Lemmer und Schlingensief toben wie Jekyll und Hyde durch den Medienzirkus.

Es gibt momentan wohl keinen Künstler, der so wenig Kontaktscheu gegenüber dem ganz Anderen hat wie Christoph Schlingensief. Man muß sein Talent bewundern, einen chaotisch wirbelnden Trubel zu veranstalten, in dem sich noch alles, das Für und das Wider, die Empörung und der Enthusiasmus, zu einem stimmigen und sehr symptomatischen Polit-Theater verbinden. 2004 will sich Torsten Lemmer ins Düsseldorfer Stadtparlament wählen lassen.


Thekla Heineke & Sandra Umathum (Hg.): Christoph Schlingensiefs Nazis rein / Thorsten Lemmer in Nazis raus, Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M., 326 Seiten, 12,50 Euro