It´s the Economy, stupid! - Ernst-Wilhelm Händler schreibt einen großen Wirtschaftsroman: “Wenn wir sterben” (NZZ, 26.09.02)
Vier Powerfrauen spielen zum Tanz auf: Charlotte hat die Firma Voigtländer erworben und leitet sie zusammen mit ihren Freundinnen Stine und Bär. Charlotte liebt ihre Firma wie einen Sohn. Doch in der Tiefe lauert der Immobilienhai. Stine fädelt eine raffinierte Immobilienintrige ein und kippt Charlotte aus dem Chefsessel. Es dauert nicht lange, bis Stine auch ihre Freundin Bär von der Karriereleiter stürzt und die Zügel der Firma alleine in den Hände hält. Kaum ist ihre Macht im Innern gesichert, geht Stine auf internationalen Expansionskurs. Während einer Fachmesse schlägt sie der Managerin Milla vom konkurrierenden Großunternehmen D´Wolf ein Joint Venture vor. Aber nicht in aller Unschuld. Wieder plant sie eine Immobilienintrige, um ihre Konkurrentin auszubooten. Doch in Milla findet Stine ihre Meisterin und verliert ihr ganzes Unternehmen. Das kleine Unternehmen Voigtländer wird von dem Großunternehmen D´Wolf geschluckt.
Der Boß ist dem Boß ein Wolf. Diese Karrierefrauen sind Meisterinnen in der Kunst des kalten Wirtschaftskrieges und erreichen den Gipfel des Glücks, wenn sie die Anzahl ihrer Arbeiter pro Fließband halbieren können. Das Nirwana liegt gleich hinter den Fabriktoren: „Alle Fabriktore standen offen, und ein warmer, stetiger Wind wehte durch die Halle – ein verläßlicher Wind, der sie daran erinnerte, daß sie in ihren Träumen fliegen konnte.“
Ernst-Wilhelm Händler hat eine hochpoetische Phänomenologie der feindlichen Übernahmen geschrieben. Er berichtet direkt aus dem kalten Herzen des Kapitals. Nichts scheint ungesünder als die Arbeitswelt. Trotz aller beschönigenden Management-Theorien von Win-win-Situationen und Synergiemaximierungen bleibt der Markt eine Alligatorfarm kurz vor der Abendfütterung. Die Firmen fressen einander, die Menschen usurpieren Posten und Seelenheil ihrer besten Freunde und Lebenspartner, und auch der Autor selbst schreckt vor Enteignung, Aneignung und Anverwandlung nicht zurück. Händler bricht in seinem Text das monolithische Stilmonopol des Autors auf. Er ordnet jeder Romanfigur eine eigenständige Erzählperspektive zu und lotet mit ihren spezifischen Wahrnehmungswerkzeugen die unterschiedlichsten Tonlagen der deutschen Gegenwartsliteratur aus. Er zeigt die Literatur in den Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit. So entsteht ein polyphones Textgewebe, in dem die Stile miteinander in Konkurrenz treten wie die Romanfiguren auf dem freien Markt.
Händler veranstaltet mit seinem großen Wirtschaftsroman die erste Fachmesse für zeitgenössische deutsche Prosa. Ein Werbehipster trägt die Welt des Pop-Romans in seinem Kopf. Als Stilvorbild für diese Sprachwelt ist Rainald Goetz Dank seines Raver-Schlachtrufs zu erkennen: „geil geil geil geil“ formuliert der Werber unter der Endorphindusche. Die weibliche Führungskraft Milla hüllt sich in das Nervenkostüm des hypersensiblen Empfindungsromans und formuliert in permanenter Zwiesprache mit sich selbst an einer scholastischen Kasuistik ihres labilen Egos. Selbst vor dem messianischen Jargon der Unternehmensberater hat der Autor nicht haltgemacht. Streckenweise gerät die Lektüre zum heiteren Literatenraten für den gebildeten Mittelstand. Händlers Stilspektrum ist eindrucksvoll. Seine Ästhetik thematisiert durchaus auch die Frage künstlerischer Allmachtsphantasien, die dem Machtstreben der Wirtschaftsbosse gar nicht so unähnlich sind. Dieser hochbegabte Prosa-Ingenieur nimmt dieselbe Haltung wie seine Global Player ein: Er schluckt all seine Konkurrenten auf dem Literaturmarkt.
Händler hat nicht nur ein technisch virtuoses Formenspiel voller verblüffender Pastiches und Parodien komponiert, sondern läßt durch sein multiperspektivisches Ensemble immer die klare Linie eines Wirtschaftsthrillers schimmert. Es gelingt ihm, eine geschickte Balance zwischen polyphoner Prosa und linearer Plotführung zu halten. Aus diesem Gleichgewicht resultiert die sehr originelle Schönheit seines komplexen Romans. Händler löst seine Figuren nicht vollständig im weißen Rauschen der Literaturen auf, sondern läßt sie durch die unterschiedlichen Stile noch schärfere Konturen gewinnen. Der große dramatische Stoff, den die moderne Wirtschaft birgt, verwischt nicht im fast schon enzyklopädischen Repertoire der zeitgenössischen Literatur. Sauber gestaltet der Autor seine ökonomischen und psychischen Tragödien.
Händler ist nicht nur ein brillanter Romancier, sondern auch selbständiger Unternehmer und kennt sich aus. Wo die klassische Mikroökonomie aufhört, fängt Händler erst richtig an. Der Autor eröffnet die erschütternde Bilanz der Gefühlsökonomie in den Führungsetagen. Der Chefsessel verwandelt sich bei ihm zur Couch des Analysten. Mit proustscher Präzision zeichnet er die psychischen Kollateralschäden des wirtschaftlichen Handelns bis in die feinsten Verästelungen nach. Fühlen und Denken seiner Personen ist vom unbedingten Willen zur Macht durchdrungen. Sie zahlen einen hohen Preis: Je erfolgreicher ihre Intrigen gegen ihre Konkurrenten verlaufen, desto mehr entfremden sie sich von sich selbst. Ihre Psyche klebt auf einem Fremdkörper wie ein sich langsam ablösendes Preisschild. Mit ihrer entfremdeten Persönlichkeit korrespondiert ein heterogener Textkörper, der ein Patchwork aus den zahllosen Stilanleihen formt. Nur der bewußte Verzicht auf Karriere und Erfolg scheint in Händlers Text die Integrität der Psyche zu garantieren. Die einzige intakte Person ist der Pförtner des Unternehmens Voigtländer, der sich als studierter Philosoph so überqualifiziert in seine Loge zurückgezogen hat wie Diogenes in sein Faß. Er wirkt wie ein weiser Zerberus, der abgeklärt den Zugang zur ökonomischen Hölle regelt.
„Wenn wir sterben“ ist eine äußerst zerebrale Versuchsanordnung, durch die der kühle Wind der akribischen Gesellschaftsanalyse weht. Händler hat die Riten, Mythen und Herrschaftsmuster der Führungsetagen genauestens studiert und sie in eine angemessene Kunstform umgesetzt. Dieser Roman gehört mit William Gaddis´ „JR“ sicherlich zu den ganz wenigen Texten, die das komplexe Zusammenspiel der Wirtschaft in einer originellen Romanstruktur widerspiegeln. Hier korrespondiert die Anverwandlung fremder Stile mit dem Sujet der feindlichen Übernahme in all ihren Spielarten. In einer Zeit, wo die Literatur immer mehr Konzessionen an den Markt macht, hat Händler ein radikal zeitgenössisches und modernes Buch gewagt. Sein sperriges Romanexperiment scheint sich bewußt gegen die Allmacht der Verwertungskette stellen zu wollen. Händler positioniert seine Kunst offensiv gegen das ökonomische Prinzip. Er hat seinem Text ein sehr ambitioniertes Motto vorangestellt: „Die Poesie dort suchen, wo sie niemand sonst finden will.“ Ernst-Wilhelm Händler hat sie nicht nur gesucht, sondern auch gefunden.
Ernst-Wilhelm Händler: Wenn wir sterben. Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2002, 475 S., Fr. XX,YY