Täglich lockt der Bildschirmschoner - Tim Staffel gleitet über Oberflächen: “Rauhfaser” (SZ, 11.01.03)
Paul ist Schriftsteller ohne Werk. Täglich lockt sein Bildschirmschoner. Umsonst. Paul schafft es nicht, ihn zu durchbrechen und den Raum dahinter mit Text zu füllen. Er hat Angst vor dem Sprung in die Sprachmatrix und ins Leben. Er igelt sich in der Rolle des unbeteiligten Beobachters ein. Die Medien werfen ein Leben aus zweiter und dritter Hand via Videobeamer an die Rauhfasertapete seiner Wohnung. Das Leben aus erster Hand spielt sich im Haus gegenüber ab: Dort zieht der schöne David ein, in den sich Paul sofort verliebt. Paul hat Übung im Fernsehen und Fernsehnen. Gerne nimmt der jüngere David Pauls Liebe entgegen, läßt sich eine väterlicher Hand aufs hübsche Haupt und hin und wieder sogar eine weniger väterliche auf den tätowierten Hintern legen, bleibt aber ansonsten nicht recht greifbar. Wenigstens nicht für Paul.
Pauls beste Freundin hingegen, die zynische Werbetexterin Sonja, stürzt sich mit Begeisterung auf David und kommt bei ihm in den Genuß von hartem, unkonventionellem Sex. Zwischen zwei Power-Meetings schaut sie schnell bei David vorbei, um nach der aseptischen Dienstleistung an Logos, Marken und Produkten eine Portion wüste, schmutzige Körperlichkeit zu tanken. Aus einer besonders wilden Nacht, die Davids Nachbarn den Schlaf raubt und für Sonja schließlich im städtischen Krankenhaus endet, geht die Tochter Marie hervor: ein Kind desillusionierte Sexualität und atemraubender Erdrosselungsspiele. Die Welt ist kalt, Paul steht am Fenster und über seine Rauhfaser flackern die einstürzenden Twin Towers. Eine neue Zeitrechnung und der zweite Teil des Romans beginnen.
Zwei Jahre später: David, Sonja und Marie sind an den Berliner Stadtrand gezogen, Paul hat sich die Möllemann-Therapie gegen Lebensangst verordnet und springt Fallschirm. Den Sprung in die Textmatrix wagt der virtuelle Schriftsteller noch immer nicht. Marie kann jetzt laufen, die Beziehung ihrer Eltern hingegen kriecht auf allen Vieren über den Parkettboden einer Luxusvilla mit Seeblick. Sonja manövriert Paul für ein paar Tage aus seinem Fallschirmparadies in ihre Havelhölle, um ihn mit David zu verkuppeln. Gerne würde sie ihr Töchterlein in dem Männerhaushalt zurücklassen und eine Agentur in London zu übernehmen. Während seines Besuchs bei den alten Freunden lernt Paul, daß sein Platz im Himmel ist, aus dem er immer wieder auf die Erde stürzen wird. Das Zusammensein mit dem geliebten Menschen ist unerträglich. Paul will nur noch Fallschirm springen. Sein Kontakt mit der Welt soll sich auf einen abgefederten, kontrollierten und sehr symbolischen Aufprall reduzieren.
„Rauhfaser“ ist ein Oberflächenroman. Das Herz der Dinge und der Menschen bleibt unerreichbar. Der Romantitel gibt sich modern und klingt nach spröder Textur, aufgerauhtem Stil und raspelnder Sprachoberfläche. Doch Staffel hat eine flüssig erzählte, sauber gearbeitete und sehr klassisch konstruierte Dreiecksgeschichte geschrieben. Sein Ich-Erzähler Paul beherrscht ein gepflegtes bis harmloses Berlin-Mitte-Parlando mit recht gelungenen lyrischen Intarsien zu den Themenkomplexen Nachtleben, Metropolenodyssee und Havelidyll. Mit distanzierter Lounge-Coolness berichtet Staffel vom Lebensgefühl einsamer Asphaltcowboys, das man inzwischen allerdings ganz gut zu kennen glaubt. Die Figuren trinken Cocktails, teilen Koksstrecken mit der Mastercard, laufen leicht desillusioniert auf Antifa-Demos mit und nuscheln urbane Wehmut in ihren Macchiato. Sie laborieren an einem verspäteten romantischen Je-ne-sais-quoi. An das vermeintlich echte Leben kommen sie nicht dran, auch wenn sie sich in rituellen Prügeleien die Augenbrauen aufschlagen. Sie sind Fight Clubber in chronischer Sinnkrise. Paul lebt sehr komfortabel von der Lebensversicherung seiner verunglückten Eltern. Dieser melancholische Frühpensionär erscheint wie eine Symbolfigur der übersättigten Erbengeneration, die ausreichend Mittel und Muße hat, ihren diffusen Weltschmerz auf die papafinanzierte Rauhfasertapete zu projizieren. Man verspürt durchaus die Lust, dem Ich-Erzähler den Strom für seinen Video-Beamer abzudrehen und ihn zu einer geregelten Arbeit zu verpflichten. Nach der ersten erfolgreich ausgefüllten Steuererklärung könnte seine Welt gleich viel rosiger aussehen.
Staffel arbeitet auch als Dramaturg und Performer. Die modische Videoinstallation mitsamt ihrem überstarken symbolischen Magnetfeld hat ihre Spuren in seinem dritten Roman hinterlassen. Mediatisierte Begierden, Projektionen, vorproduzierte Wunschwelten, gebrochene Reflexionen: alles da. Der technische Apparat soll diesem konventionellen Text eine zeitgenössischere Anmutung verleihen. Leider läßt der Videobeamer die globale Weltpolitik völlig unmotiviert und banal durch den Text flackern. Der Elfenbeinturm mit Kabelanschluß garantiert noch keinen kritischen Blick auf die verzwickte Weltlage. Staffels Tapetenanalysen zu Neofaschismus, israelischer Siedlungspolitik, russischer U-Boot Katastrophe und palästinensischen Bombenbastlern sind fade.
Der nimmermüde Videobeamer ist eine konstruierte Textinstallation und wird zum aufdringlichen Symbol der modernen Sehnsuchtsmaschinerie. Alle Figuren speisen ihr Leben, ihre Wünsche und ihre Arbeit in die große Medienmühle ein. Sonja erfährt ihre Selbstbestätigung nur in Werbeaufträgen. David findet einen Job bei einem lokalen Boulevardreporter und belauscht den Funkverkehr der Polizei, um den Reporter schnell zu den schönsten Katastrophen der Nacht zu lotsen. Eine Liebe zu einem Katastrophenlotsen kann nicht gut gehen. David fasziniert Paul und Sonja, weil er der Einzige ist, der mit seiner Umwelt auf Tuchfühlung geht und nicht in der Beobachterrolle verharrt. Er praktiziert die chinesische Kampfkunst Wing Tsun, deren Haupttechnik darin besteht, am Gegner zu „kleben“ und all seine Angriffsenergie verstärkt zurückzugeben. David ist der ideale Reflektor für alle narzißtischen Psychen. Schade, daß er ein Nazi ist. Staffels Hang zu leitmotivischen Katastrophenverschränkungen wirkt zwanghaft. Pauls Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. David hat in seiner Jugend im Koksrausch einen dramatischen Verkehrsunfall verschuldet und muß nun sein erstes Geld mit der Jagd nach Unfällen, Ehedramen und fotogenen Selbstmorden verdienen. Schrill tönt Katastrophenalarm zwischen den Zeilen.
Mit seiner Ich-Erzählung ist es Paul schlußendlich doch noch gelungen, die Barriere des lockenden Bildschirmschoners zu durchbrechen. Stilsicher erzählt Staffel diese Geschichte von unerfüllbaren Sehnsüchten. Erzähltechnisch ist an seinem Text wenig zu beanstanden. Es fällt allerdings schwer, die Lebensängste des kontaktgestörten Fallschirmspringers bis in die letzte Montagmorgendepression nachzuvollziehen. Die Textoberfläche von „Rauhfaser“ ist einigermaßen dekorativ. Der thematische und psychologische Kleister darunter ist weniger überzeugend. „Rauhfaser“ ist nicht wirklich rauh. Doch wenigstens ist der Roman nicht zur Blümchentapete geraten. Bei genauerem Hinschauen allerdings sieht man im Wasserzeichen zu viele blaue Blumen hindurchschimmern.
Tim Staffel: Rauhfaser. Roman, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 221 Seiten, 12 Euro