Stephan Maus

Marc Buhl: ‘Der rote Domino’ (NZZ)

Der Dichterfürst der Finsternis - Marc Buhl kippelt am Goethe-Denkmal: “Der rote Domino” (NZZ, 12.03.03)

Das Studium der Geisteswissenschaften ist nicht immer ungefährlich für Körper und Geist. Die junge Germanistik-Studentin Bettina forscht über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz und entdeckt dabei Skandalöses über sein Verhältnis zu seinem Dichterfreund Goethe. Bettinas Archivfunde sind so brisant, daß sie spurlos verschwindet. Ihre Eltern beauftragen die Textkanzlei des akademischen Ghostwriters Udo Stahl, ihre Tochter wiederzufinden. Zusammen mit seinem Assistenten Drexler macht sich der abgeklärte Stahl auf die Suche nach der verschollenen Germanistin. Die beiden Textdetektive jagen bald einem Konvolut von kompromittierenden Briefen aus der Korrespondenz zwischen Goethe und Lenz hinterher. Diese Recherche führt Stahl nach Rußland, wo er bibliophiler Beutekunst nachspürt. Das Weimarer Goethe-Archiv stellt sich bald als ein zwielichtiger Apparat mit besten Verbindungen zur bibliophilen Russenmafia heraus. Die Geisteswissenschaften sind ein Thriller.

Leo Perutz hatte Anfang des 20. Jahrhunderts großen literarischen Erfolg mit eleganten und raffiniert kalkulierten Fantasien über historische Figuren. Marc Buhl nimmt diese Tradition des intelligenten Unterhaltungsromans mit seinem sorgfältig gearbeiteten Roman „Der rote Domino“ wieder auf. Geschickt verwebt er drei Zeitstränge. In gut dokumentierten Rückblenden zeichnet er das Verhältnis zwischen Lenz und Goethe in Weimar. Auf einer zweiten Zeitebene schildert er das Schicksal der Dichter-Korrespondenz in den Nachkriegswirren. In diese Rückblenden ist die Suche nach der verschwundenen Germanistin gebettet. Buhl gelingt es, drei stilistisch unterschiedliche Erzählstränge recht harmonisch ineinander zu verflechten. Interessant verschlüsselt winden sich die Spiralen der Text-DNA umeinander.

Am besten gelingt dem Autor die Beschwörung der Hofintrigen im Weimar der Klassik. Glaubwürdig und bilderreich zeichnet er die höfische Gesellschaft und ihren Kunstbetrieb als mephistolische Natterngrube. Der Detektivplot ist aus klassischen Genrebausteinen gesetzt. Stahl ist Witwer und trägt eine adrette Grundmelancholie in sich. Der dicke Ghostwriter hat den Blues. Das hindert ihn nicht, hin und wieder kräftig zuzuschlagen. Seine Rechts-Links-Kombinationen sind effektiv, denn in besseren Zeiten war er Boxer. Aber seine fleischigen Hände können auch kundig durch die Zettelkästen des Goethe-Archivs blättern. Stahl ist gebildet und verfügt über einen gesunden Fundus an bodenständigen Bon Mots. Seine Weimarer Bibliotheksabenteuer und amourösen Affären in russischen Plattenbauten lesen sich unterhaltsam. Einige handwerkliche Schnitzer in der Plotgestaltung hätten sich durch einen einsemestrigen Besuch in einem Creative-Writing-Seminar beheben lassen: der Dialog sollte nicht als didaktische Rumpelkammer mißbraucht werden, allzu große Zufälle in der Intrige schmälern ihre Eleganz und auktoriale Kommentare gehören nicht in einen guten Unterhaltungsroman.

Buhls schriftstellerische Leistung besteht in der glaubhaften Ausschmückung von Leerstellen in den Biographien der beiden Dichter. Der Autor hat gut recherchiert, um eine Skandal-Intrige zwischen dem Olympier und dem verkannten Genie Lenz auszutüfteln. Sorgfältig setzt Buhl ein biographisches Puzzlestück ans andere, und es bereitet Vergnügen, einige Kapitel der Literaturgeschichte als Verschwörung zu betrachten und unmerklich vom gesicherten Forschungsterrain ins Reich der Fiktion zu gleiten. Buhl greift zurück auf den Topos des Geheimrats als Fiesling, dessen Ruhm auf den Ruinen verratener Freundschaften ruht: „´Goethe war das Schwein und Lenz die arme Sau´, fing Peter Drexler an und machte eine künstlerische Pause.“ Goethe ist die Kraft, die Böses will, und es auch schafft.

Mit Hilfe der wirksamen Sonde der erlebten Rede dringt der Autor in das Gemüt der Weimarer Schriftsteller und porträtiert beide überzeugend. Nur selten vergreift sich Buhl in diesen Weimarer Passagen im Ton und dichtet seinen Dioskuren anachronistische Wendungen in die Stimmungslage: „Er faßt es nicht“, klingt eher nach modischer After-Work-Party als nach klassischem Literatensalon. Doch das bleibt die Ausnahme. Zahlreich sind die liebevoll ausgemalten historischen Details: „Das ist Eisengallustinte. Deshalb ist die so schwarz. Die ist für die Ewigkeit gemacht, die einzige Tinte, die nie ausbleicht. Aber wenn sie feucht wird, entsteht Schwefelsäure und die zerfrißt die Zellulose.“ Wenn Marc Buhl noch ein bißchen mit der Mischung seiner Tinte experimentiert, könnte er durchaus zu Leo Perutz´ würdigem Erben werden.


Marc Buhl: Der rote Domino. Roman, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2002, 280 S., Fr. XX,YY