Stephan Maus

Koen Brams (Hg.): ‘Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1650 bis heute’ (SZ)

Mythico-Comico-Supersexy-High-Masala-Kunst - Eine “Enzyklopädie fiktiver Maler” von Koen Brams (SZ, 11.06.03)

Koen Brams, Direktor der Jan-van-Eyck-Akademie in Maastricht, hat zusammen mit 38 weiteren Enzyklopädisten die Weltliteratur durchkämmt und erfundene Maler aus Romanen befreit, um sie in ein Lexikon zu stecken. Nun sind über 280 widerspenstige Sonderlinge unter dem strengen Regiment des Alphabets vereint. Die geballte Macht der bildenden Kunst, gefiltert durch die geballte Macht der schreibenden Zunft. Genug Talente, um eine gähnend leere Himmelskuppel zu illustrieren. Aber auch genug Wirrköpfe, um sämtliche arbeitslosen Psychotherapeuten für eine gute Dekade zu beschäftigen. Meist reichen diesen Forschern des Absoluten die drei Dimensionen kaum aus: „Zu Coes Hauptwerk gehört eine Serie monumentaler Porträts in explosiv-kubistischem Stil, wobei der Porträtierte in dem Moment festgehalten wird, da sein Gehirn durch Kernspaltung zerplatzt – eine graue Rauchfahne symbolisiert die vierte Dimension.“

Wie jede Enzyklopädie lebt auch die vorliegende von dem überraschenden Nebeneinander: Das schwärmerische Malgenie aus der romantischen Künstlererzählung hat seine Staffelei gleich neben der Werkbank des verkabelten Installationskünstler aus dem Cyberpunk-Roman aufgestellt. Und so unterschiedlich die Epochen auch sein mögen, so komplex sich die Künstlerpsyche auch geben mag, es sind doch immer wieder dieselben Themen, die all diese Maler, Kupferstecher, Bildhauer und Performer beackern müssen. Aus diesem Querschnitt durch vierhundert Jahre Literaturgeschichte läßt sich schnell eine Art Prototyp des bildenden Künstlers destillieren: Der Kampf mit den Musen und der tägliche Kontakt mit den ätherischen Ausdünstungen seiner Ölfarben und korrosiven Säuren reizen seine Hirnrinde über Gebühr, und die Gesellschaft droht ihn mit ihrem Geld in die Fesseln der Bürgerlichkeit zu schlagen. Und wenn schließlich alle Prüfungen bestanden, jeder Versuchung getrotzt und endlich das definitive Blau zusammengemischt ist, wartet schon hinter der nächsten Leinwand das lockende Nacktmodell, das den Meister lächelnd, halb zog sie ihn, halb sank er hin, in einen murrenden Familienvater in Filzpantoffeln verwandelt, dem langsam, aber sicher der Pinsel vertrocknet.

Bei der literarischen Verarbeitung des Künstlermotivs lassen sich generell zwei große Tendenzen feststellen. Die klassische Variante portraitiert den Künstler in seiner Entwicklung und trägt alle Züge des Bildungsromans. Diese traditionelle Verarbeitung findet sich bis in den zeitgenössischen Roman. Sie ist langweilig. In der moderneren Variante sind die Beschreibungen von Kunstwerken immer auch eine Metapher für die strukturellen Charakteristika des literarischen Werkes. Raymond Roussels Maschinen und Installationen, Georges Perecs formalistische Puzzles und Don DeLillos Junk-Installationen spiegeln die Machart der Texte, die sie in Szene setzen. Die Autoren der vorliegenden Enzyklopädie übersehen diese Besonderheit des fiktiven Kunstwerks im Text. Sie hätten die formalen Funktionen der erfundene Künstler in dem Werk, das sie zum Leben erweckt, mit etwas mehr Esprit herausarbeiten müssen.

Leider war auch ihre Experimentierlust bei der enzyklopädischen Fleißarbeit nicht so ausgeprägt, daß sie die literaturhistorische Entwicklung des Künstlermotivs noch amüsant in das Lexikon einarbeiten konnten. Fast alle Enzyklopädisten begnügen sich mit dem anekdotischen Resümee von unzähligen Romanen und Erzählungen. Hin und wieder gelingt eine amüsante Parodie des kunstkritischen Jargons, ein charmantes Kokettieren mit dem Duktus eines klassischen Nachschlagewerkes, doch meist bieten die Autoren nicht mehr als eine Inhaltsangabe nach dem bewährten Schema des Kindlers Literaturlexikon. Nur wenige dieser fleißigen Leser sind auch begabte Miniaturenmaler. Und sehr wenige wagen den Blick über den Tellerrand des westlichen Kulturkreises. Wo ist ein engagierte Walfischknochenschnitzer aus einem unterkühlten Inuit-Roman, wo der raffinierte Lianen-Makramee-Artist aus dem Regenwald Papua-Neuguineas? Man steht hier in etwa vor dem literarischen Kanon von Marcel Reich-Ranicki.

Doch selbst dieses ziemlich eurozentrische Kompendium recht uninspirierter Zusammenfassungen von Romanhandlungen ist eine schöne Gelegenheit, noch einmal viele Künstlerromane durchzugehen, ohne sich um all die künstlerisch unbegabten Statisten der Romanhandlungen kümmern zu müssen. Schnell läßt sich als Gesetzmäßigkeit herausarbeiten, daß Autoren Auftritte von Künstlern zu unangenehm ausführlichen Ästhetik-Diskussionen mißbrauchen. Und es lassen sich bemerkenswerte Statistiken erstellen. So ist zum Beispiel der fiktive Maler mit den meisten Romanauftritten ein Geschöpf Honoré de Balzacs: Joseph Bridau schwingt seinen Pinsel in genau dreizehn literarischen Werken. Überhaupt hat Balzac die meisten Künstler erfunden. Wobei sich in seinem Falle sicherlich dasselbe auch zu Schornsteinfegern, Metzgern und Webdesignern sagen ließe. Gemessen am Personenreichtum seiner Schöpfung war Balzac Gott immer noch am nächsten. Am erstaunlichsten ist, daß die Bibel keinen bedeutenden Künstler erfunden hat - sieht man einmal von Gott ab. So ist die größte Inspirationsquelle der Malerei scheinbar kunstfreie Zone.

Mit Hilfe dieses Lexikons könnte man auch eine Entwicklungsgeschichte des phantasierten Malateliers skizzieren. Die Literaten gefallen sich in der farbigen Schilderung der Künstlerwerkstätten. Quer durch die Jahrhunderte schreitet man vom kommunikativen Goßraumatelier der Renaissance zur unvermeidlichen Pariser Dachmansarde hinüber zum New Yorker Loft. Kunstgeschichte ist immer auch eine Geschichte von schöner Wohnen. Die literarische Hauptstadt der Kunst ist Paris. Aus dem Resümee selbst unbekannterer Romane läßt sich immer noch sehr gut die Ästhetik des Autors und seiner Epoche ablesen. So eignet sich dieses Lexikon nicht zuletzt hervorragend zum Gesellschaftsspiel für die gebildeten Stände. Wenn am Mittwoch das Warten auf die neue Ausgabe der ZEIT allzu langweilig wird, kann man immer noch heiteres Literatenraten spielen: Welcher Autor erfand die begabteste Vertreterin der „Epico-Mythico-Tragico-Comico-Supersexy-High-Masala-Kunst“? Nachdem diese Frage geklärt wäre, ließe sich noch von einem Museum träumen, in dem ausschließlich gerahmte Buchseiten mit Beschreibungen imaginärer Kunstwerken hängen.


Koen Brams (Hg.): Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1650 bis heute, Aus dem Niederländischen von Christiane Kuby und Herbert Post, Die Andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M., 2003, 372 Seiten, 27,50 Euro