Stephan Maus

Logan Pearsall Smith: ‘Trivia. Prosastücke und Aphorismen’ (SZ)

Mit Schirm, Charme und Melpomene. Logan Pearsal Smith flaniert durch den philosophischen Themenpark: “Trivia” (SZ, 19.07.03)

Am 18. Oktober 1865 wird in Milville, New Jersey, der Schriftsteller geboren, der den wahrscheinlich besten vorletzten Absatz der englischen Literatur schreiben sollte. Logan Pearsall Smith siedelt nach England um und entwickelt sich zum Flaneur. Er verweilt nicht lange bei einem Sujet, sondern promeniert mit Schirm, Charme und Melone durch den Themenpark von Philosophie und Kunst. Was Baudelaire in Paris umtreibt, setzt ihn in London und Umgebung in Bewegung. Über die Conditio Humana grübelnd, bestaunt er seidene Halstücher in Londons Einkaufsstraßen, begutachtet den Schnitt der Buchsbaumhecken auf dem Lande und hält einen Schwatz mit dem Dorfpfarrer.

Im Laufe der Zeit fallen bei Smiths Spaziergängen und Salonbesuchen zahlreiche kurze Prosastücke, Aphorismen und Maximen an, die der Manesse-Verlag nun in einem schmucken Vademecum versammelt hat, das in die Westentasche eines jeden Flaneurs paßt. Fröhlich schaukelt das Lesebändchen. Le Spleen de Londres ist weit weniger melancholisch als der aus Paris, Smiths Ideal nicht ganz so ätherisch wie das seiner französischen Schwesterseele und seine poetischen Blumen sind nicht wirklich böse: „Und in jedem Juni stand die große Masse von Blättern und Schößlingen leidenschaftlich über und über bedeckt von roten, wohlriechenden Blüten, als glühten ihre Wurzeln und Fasern immer noch von dem Zorn und dem enttäuschten Verlangen jenes italienischen Liebhabers.“ Hin und wieder wird dem Gentleman recht blümerant.

Baudelaire konnte schon mal mit grün gefärbten Haaren zurück in seine Klause kommen. Bei Smith kann man sich kaum vorstellen, daß er sein Londoner Stadthaus ohne Hut verläßt. Überhaupt spielt der Hut eine große Rolle in dieser gepflegt zurechtgezupften Prosa. Er ist ein Schutz gegen metaphysische Sonnenwinde und das drohende Gewölbe des sinnlosen Universums. Smiths Gedanken und Prosastücke verströmen den Duft von Salonpfeifchen und knarzendem Clubsesselleder. Das Leben ist ein Jammertal, doch zum Glück steht immer eine Tasse Tee mit einem Trostkeks bereit.

Smith ist nicht bedingungsloser Großstadtmensch, sondern verspürt auch eine periodische Sehnsucht nach der ländlichen Idylle. So beginnen die „Trivia“ mit einer Sammlung bukolischer Stücke, die der Stadtflüchtling im Garten oder in der Bibliothek seines Landhauses verfaßt hat. Auch hier herrscht die gediegene Atmosphäre der englischen Upper-Class: Kieswege, aus der Ferne nickende Nachbarn, tickende Standuhren. Der Aphoristiker pflegt seine Prosa wie der Gärtner seine Blumenrabatten. Smith träumt den Traum eines jeden schreibenden Dandys: Seinen Namen mit Hilfe des perfekten Satzes, der makellosen Formulierung und der geschliffenen Maxime in die Ewigkeit hinüberzuschmuggeln. Die Nachwelt wird zur Obsession, und das elitäre Dichtergehabe des Formuliersnobs kann der Nachwelt zuweilen ganz schön auf die Nerven gehen. So viel verkrampfte Verrenkungen wären wir nun auch wieder nicht wert gewesen. Smith stilisiert sich zum Großinquisitor auf Kreuzzug gegen falsche Adjektive. Er ziseliert so Manches. Und wo ziseliert wird, fallen Späne. Neben vielen geistreichen Bon Mots stehen auch sehr viele Stücke, die nur noch wie gallige oder banale Tagebuchnotizen eines besserwisserischen Dandys wirken: „Man kann nicht gleichzeitig fashionable und erstklassig sein.“ So, so; - Tee schon fertig, James?

Bei vielen dieser hochgezüchteten Prosa-Schmetterlinge haben sich die Wollmäuse der Zeit schon dick über den lyrischen Flügelstaub gelegt. Die besten dieser Poèmes en Prose leben von dem ironischen Kontrast zwischen gehobener Metaphysik und den Niederungen des Alltags, dem selbst ein Dandy nicht entkommen kann. Aus dieser Spannung nährt sich Smiths eigentliche stilistische Originalität. Das Drama von Geworfenheit, Unbehaustheit und existentieller Unwirtlichkeit wird immerhin durch ein sauberes Hutband gemildert. Indem Smith die großen Probleme der Menschheit immer wieder kontrastiert mit den Tücken des Alltags, entschärft er sie. Die Trivialitäten sind eine wirksame Medizin gegen universelle Verzweiflung.

Smiths gezwungene Versuche, es den Moralisten der Antike oder des 18. Jahrhunderts gleichzutun, wirken hingegen recht willkürlich. Je mehr er sich von den amüsanten Trivialitäten wegbewegt, um grübelnd das tausendarmige Universum niederzuzwingen, desto belangloser lesen sich seine Maximen. In seinen metaphysischen Momenten richtet er seinen Blick zwanghaft in die ehernen Konstellationen der Sterne. Seine Texte werden dabei halsstarrig, die geprägte Maxime wandelt sich zum inflationären, abgegriffenen Sterntaler. Und in seinen schlechtesten Momenten dichtet Smith schlichtweg funkelnden Seelenkitsch: „In diesen Augenblicken der gemeinsamen Verzückung faßten meine Seele und die entkörperte Seele dieser umfänglichen Dame sich bei den Händen und sangen miteinander wie die Morgensterne.“ Die Blumen des Bösen welken zu Stilblüten. So rächen sich die Trivialitäten für ihre schändliche Vernachlässigung: sie degradieren die ambitiösen und hochfliegenden Prosatexte zu trivialen Binsenweisheiten und neoplatonischem Plunder.

Smiths Genie scheint nach einer originellen Gesetzmäßigkeit zu funktionieren: Je banaler der Gegenstand seiner Betrachtungen, desto größer der poetische Gehalt, den er aus ihm ziehen kann. Auf diese Weise entstehen die einzigartigen Maximen, die aus dieser Sammlung leuchten. So kann selbst im Badezimmerspiegel ein quecksilbriger Höllenspruch auflodern, der den verschlafenen Snob in eine tiefe kabbalistische Krise stürzt: „TAM HTAB. Was mochte die Bedeutung dieser unheimlichen Worte sein, und wie in aller Welt kamen sie dahin? Wie Belsazar war mein Geist verstört von dieser Schrift, und meine Knie schlotterten.“ Doch es ist nur die vertraute Inschrift eines Wohnaccessoires: Bath Mat. Der Fußabtreter vor dem Tor zur Hölle ist nur die gute alte Badematte. In dieser Spannung zwischen großem philosophischem Denkaufwand und heiterer Alltäglichkeit liegt der ganze Reiz dieser Aphorismensammlung. Smith, möchte man rufen, verliere Deine Hutbänder nicht aus dem Auge! Denn so lange dieser Gentleman seinen Hut immer schön in Reichweite hat, kann ihm nichts passieren. Und so gelang ihm denn auch der beste vorletzte Absatz der englischen Literatur: „Was ihr für komische Röcke anhabt, liebe Leser! Und eure Hüte! Wenn ich an eure Hüte denke, muß ich lachen, und eure Ansichten über das Geschlechtsleben stelle ich mir ziemlich gräßlich vor.“


Logan Pearsall Smith: Trivia. Prosastücke und Aphorismen, Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Friedhelm Kemp, Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich, 2003, 309 Seiten, XY Euro