Odyssee auf dem Müllfrachter - Annette Pehnt auf der Suche nach Utopia: “Insel 34” (mare, Nr. 40)
Alleskönner sind Langeweiler. Bei der Zeugnisvergabe haben sie ihren großen Auftritt, aber auf dem Pausenhof haben sie nichts zu melden. Zeugnisvergabe ist ein Mal im Jahr, Pausenhof jeden Tag. Während ihre Klassenkameraden knutschen lernen, pauken die hochtalentierten Langeweiler Integralrechnung. Keiner liebt die Alleskönner.
Die junge Ich-Erzählerin in Annette Pehnts Roman hat alle Begabungen. Was ihr fehlt ist eine Leidenschaft. Liebe und Zuneigung wären auch nicht schlecht; obwohl man mit einer lodernden Leidenschaft im Herzen auf beides zur Not auch verzichten könnte. Wer glüht, braucht nicht unbedingt menschliche Wärme. Das Mädchen versucht, ein inneres Trostfeuerchen zu entfachen. Sie wandelt sich zur jungen Frau und wird Inselforscherin. Vor der Küste ihrer Heimat liegen namenlose, durchnumerierte Basaltinseln. Nummer 34 ist am weitesten entfernt. Die junge Frau wird all ihre Sehnsüchte auf Nummer 34 projizieren. Utopia liegt fast vor der Tür, hat jedoch leider keine Schiffsanbindung.
Pehnts Roman zeichnet alle Stadien der gewissenhaften Inselerforschung nach. Die Erzählerin wird ihre Jugend über Inselliteratur gebeugt in der städtischen Bibliothek verschwenden, in allen Schulfächern bis auf Erdkunde immer schlechter werden, mühelos eine Stelle bei einem verschrobenen Professor für Inseldialekte finden und sich schließlich langsam auf die Reise nach Insel 34 machen. Hier beginnt die klassische Odyssee, und es würde nicht verwundern, wenn man beim Nachzählen aller Inseln, auf die es Odysseus verschlug, auf die Zahl 34 käme.
Nach exakt einem Drittel des Textvolumens läßt Pehnt ihren Roman in ein sonderbares Reich des gezähmten Exotismus’ eintauchen. Auf ihrer Reise zu Insel 34 muß die Forscherin auf Nummer 28, Nummer 32 und 33 Halt machen. Auf Insel 28 lebt ein skurriles, muffeliges Volk, dessen Zuneigung sich nur durch kräftezehrendes Sackpfeifenspiel gewinnen läßt. Auf Nummer 32 lebt eine gutmütige Männergesellschaft, die im Torfmoor nach den Resten eines alten Weges gräbt. Auf 33 wird der Müll der restlichen Inseln entsorgt. Das bevorzugte Transportmittel der Inselforscherin ist der Müllfrachter, der sie auf die Basaltinseln mitnimmt. Ihre Reise kann man als desillusionierend bezeichnen: die Forscherodyssee führt über die Stationen Kunst und Geschichte geradewegs auf die Müllkippe. Utopia wird nicht erreicht. In straffem Erzähltempo durchquert Pehnt diese Serie von existentiellen Pleiten, ohne dabei die Miene zu verziehen. Ihr Text strahlt große Selbstbeherrschung aus.
Pehnts Roman trägt leicht kafkaeske Züge, doch die unterschwellige Tragik wird immer durch lakonischen Humor gemildert. Es ist, als wäre der Käfer Gregor Samsa nur ab und an übers Manuskript gekrabbelt und hätte dort diskrete Spuren hinterlassen. In der jüngeren deutschen Literatur überwiegen mittlerweile Erinnerungstexte. Kurioserweise bestellen die jungen Gegenwartsautoren vor allem das Feld ihrer Vergangenheit. Annette Pehnts große Kunst besteht in der sehr originellen Bearbeitung dieses modischen Topos’. Die Autorin verfremdet sehr geschickt die Geschichte einer Jugend in der Provinz und erhebt ihren Text zu einem reizvollen, befremdlichen Zwitterwesen aus Realismus und parabelhafter Phantastik.
Pehnt verwendet alle Versatzstücke einer klassischen deutschen Entwicklungsgeschichte, von Klassenzimmerszenen über die obligatorische Einführung in die Liebe bis hin zu Campus-Anekdoten. Doch im Fokus der befremdlichen Leidenschaft für Insel 34 verwandeln sich diese traditionellen Stationen einer jungen Biographie in Etappen einer märchenhaften Odysse. Die Kulissen des Romans bleiben abstrakt, doch sie sind mit eindringlicher Detailgenauigkeit gezeichnet. Es scheint, als wäre die ostfriesische Inselkette eines Morgens aus einem besonders milchigem Nebel aufgetaucht und hätte sich in eine Ansammlung von exotischen Eilanden verwandelt.
Die Odyssee endet kurz vor dem Ziel aller Sehnsüchte, auf Insel 33. Endstation Müllkippe. Allzu leicht ließe sich diese Erzählung als melancholische Parabel auf zahllose Banalitäten lesen: als ein Gleichnis über das Erwachsenwerden, die Sinnlosigkeit aller Leidenschaften, die Einsamkeit der grundlos lodernden Künstlerseele oder die Unerfüllbarkeit aller Sehnsüchte. Doch dazu wäre dieses fein verästelte Kunstwerk zu schade. Man sollte lieber die interessanten Schwingungen dieses sehr ungewöhnlichen Textes zwischen Realismus und Phantastik, den kunstvoll ausbalancierten Rhythmus seiner Sätze und die halluzinierende Genauigkeit dieser Autorin genießen wie die lockenden Schemen einer fernen Insel, deren genaue Silhouette sich immer wieder dem Forscher entzieht. Alleskönner sind Langeweiler. Man weiß nicht, über welche Talente Annette Pehnt sonst noch verfügt, aber Bücher schreiben kann sie.
Annette Pehnt: Insel 34. Roman, Piper Verlag, München, 2003, 187 Seiten, XY Euro