Pseudo-Pippis im Büroturm Kunterbunt - Lukas Hammerstein simuliert die Subversion: “Die 120 Tage von Berlin” (SZ, 29.09.03)
Obwohl man als Rezensent mittlerweile Berlin-Romane so gerne in die Hand nimmt wie ein Venture-Capitalist Strategiepapiere für tolle Dot-Com-Firmengründungen, liest sich der dramaturgische Busineßplan von Lukas Hammersteins Prosa-Unternehmung erst einmal vielversprechend: Die Berliner Immobilienblase ist geplatzt, die Rezession läuft auf Hochtouren, und der Leerstand in den Glaspalästen am Potsdamer Platz ist beeindruckend. Ein paar quirlige Szeneleute schlagen den gebeutelten Immobilienmanagern vor, für 120 Tage in ein leeres Hochhaus zu ziehen, um mit simulierter Geschäftigkeit neue Mieter für die tote Immobilie anzuziehen. Das Hochhaus heißt Placebis, was als Placebo-Name für die Debis-Zentrale zu verstehen ist, und den Lateinern unter den Lesern als erfrischende Konjugationsübung dienen mag. Die Pseudo-Mieter finden für vier Monate in dem Placebis-Glasturm Raum für all das, was Claudia Roth im besonderen und die Szene im allgemeinen unter dem Begriff „Projekte“ subsumiert.
Schnell verwandelt sich die noble Büroadresse in eine verrückte Villa Kunterbunt. Video-Performer besetzen die Pförtnerloge, Skater gleiten mit nacktem Oberkörper durchs Parkhaus, Hacker programmieren rebellischen Code unterm Dach, Fahrradkuriere lassen im Hof ihre 27 Gänge krachen, und auch der Ich-Erzähler ist richtig glücklich, sich für provisorische vier Monate in einer chromglitzernden Nische einrichten zu können. Er streift durch das Haus, bandelt mit jedem Bewohner an, der ihm unter die Bettdecke kommt und hat insgesamt seinen betont unkonventionellen Spaß in der gekaperten Immobilie. Nur muß er auf seinen Streifzügen durch das hochmoderne Smart-House leider irgendwann auf einen außergewöhnlich leistungsfähigen Schwafelgenerator gestoßen sein. Den wirft er nun nach 120 Tagen Aufenthalt in dem High-Tech-Squatt begeistert an und erzählt von der guten Zeit, die man miteinander gehabt hat, hey.
Die Hausbesetzer feiern am Ende ihrer vier Monate eine große Abschiedsparty, was Hammersteins Erzähler zum willkommenen Anlaß eines Rückblicks nimmt. Er berichtet seiner verlorenen Liebe in der Provinz von seiner irren Zeit in dem Büroturm und beschreibt auch die langsam warmlaufende Party. Und wieder einmal liest man ein Loblied auf dionysische Lifestyle-Feste, wie es schon der Endorphinausschüttungsspezialist Rainald Goetz gerne in seinen bedröhntesten Momenten anstimmte. Es geht noch einmal um das große Abenteuer der wummernden Bässe, der sexy schwitznaß getanzten Mädels, der schnellen Nummer zwischen Aufzug und Toilette. Die stampfende Turbinenmusik der Tanzkeller schaufelt noch einmal den abgestandenen Synapsenbeglückungsexpressionismus der späten Neunziger zwischen die Zeilen. Raunende Dionysien, Partymystizismus, Zappelkaballa und kein Ende: „Wäre da nicht die Musik gewesen, hätten mich nicht die Bässe angetrieben, zu jenen unsichtbaren Dingen zu stoßen, von denen ich nur den wilden Rhythmus kannte.“ Wieder einmal stellt sich die Frage, warum die ewig hopsenden Partysans nicht einfach den Mund halten und im Rhythmus mit dem Hintern wackeln, statt schwurbelnde Romane über ihre Tanz- und Fummelvergnügungen zu schreiben. Irgend jemand an den Prosa-Reglern der literarischen Republik muß dieses metaphysisch munkelnde Partygequatsche immer noch mit hochmoderner Prosa verwechseln.
Obwohl Hammerstein einige Spitzen gegen die Pop-Literatur einflicht, trägt sein Text noch einmal alle Züge eines jener archivarischen Zeugnisse von Lifestyle-Attitüden und Coolness-Gesten. Nur tarnt der Autor seine schwärmerische Eloge auf den legendären Berliner Nischen-Lifestyle als Apologie der Revolte. Das Hochhaus funktioniert als Setzkasten für urst verrückte Szene-Exponate. Desorientiert hangelt sich der sogenannte Roman durch die Büroetagen, guckt mal hier in eine improvisierte Wohnnische mit Räucherstäbchen, späht mal dort in eine zerwühlte Bettstatt vor atemberaubendem Metropolenpanorama. Die jungen Pseudo-Mieter machen so abgefahrene Sachen wie sich ihre Musik „mit dem MP3-Player aus dem Internet“ zu holen. Etagenübergreifende Verwirrung stiften wieder mal jene mysteriösen Frauen, die „ein Wind gnadenloser Freiheit“ umweht. „Geil, geil, geil“, röchelte Rainald Goetz erschöpft in seinem Party-Text „Rave“ nach seinem ersten Herzinfarkt. Ähnlich lautet auch der Tenor in den „120 Tagen von Berlin.“ Hammerstein breitet die ganze Folklore des simulierten unangepaßten Lebens aus. Der Autor mußte Philosophie studieren und Bayerns staatlichen Förderungspreis für junge Schriftsteller erhalten, um Red-Bull-Weisheiten wie diese zu formulieren: „Auch ein Fest muß Flügel haben, um nicht abzustürzen.“ Klingt nach der flügelspreizenden Hausphilosophie von Feinkost Käfer.
Mit der naiven Begeisterung des Stadtmagazin-Soziologen hakt Hammerstein die unterschiedlichen alternativen Lebensformen ab. Dabei entwickelt er einen kitschigen Pathos der Nischenkultur. Heutzutage lauscht der arme Poet nicht mehr in lecker Dachkammer dem jambischen Tröpfeln auf seinem geflickten Regenschirm, sondern thront in der letzten Etage eines besetzten Hochhauses und zaubert ironische Botschaften auf die Computerschirme in den feindlichen Systemen. Vergeblich versucht der Ich-Erzähler, sein Unbehagen an der neuen Mitte zu artikulieren. Dabei verkörpern er und seine Squatter-Clique exakt das, was in Mitte schon immer hip war. Die Wirtschaftskrise hat zwar die Webdesigner von der Karriereleiter katapultiert, aber noch immer scharwenzeln sie in Prada-Schluffen und Helmut-Lang-Klamotten über den Dancefloor, der im Rhythmus irgendeiner 2Step-Garage-Dubhouse-Elektro-Boogie-Muzak vibriert, während im Nebenraum wackelige Super-8-Filme über die Leinwand flackern. Das gesamte Romanpersonal wirkt wie die Inkarnation einer Dekade Unsinn aus dem Hamburger Trendbüro. Horxscher Murx. Alberne Menschen, die „Sneakers“ statt „Turnschuhe“ sagen.
Die große Miet-Simulation soll als subversive Performance gelten. Aber niemals wird klar, wogegen sich diese pathetische Subversion eigentlich richten soll. Was wollen all diese feiernden Menschen? Mehr Vanille-Joghurt in den Kühlregalen? Mehr Sushi-Schiffchen in den Bars am Potsdamer-Platz? Oder sind sie gar gegen Günther Jauch? Hammerstein klittert ein politisches Kabarett zusammen, das zahnlos gegen Beamte, Medien und AOK polemisiert und von ähnlicher systemerschütternder Sprengkraft ist wie Roman Herzogs Ruck-Rede aus dem kalten Herzen von Mitte, dem Hotel Adlon. Die Mitte-Hipster witzeln weit unter Stammtisch-Niveau, dort etwa, wo Struppi auf Herrchens Füßen schlummert. Die Pseudo-Pippis im Büroturm Kunterbunt gefallen sich in Pseudo-Subversion. Die Revolte ist nichts als lässige Attitüde und Geschwätz von der Revolte. Jede Figur ist nur lebloses Abziehbildchen in einem Star-Album voller Coolness-Helden. Hammerstein macht nicht Literatur, sondern Text-Design. Am Ende der 120 Tage ist die schicke Nischenrebellion einfach nur geschäftsfördernd: die Investoren können all ihre Büros an den Mann bringen. So hat die viel gescholtene neue Mitte die Rebellion als das entlarvt, was sie ist: ein systemtragendes Ferienlager für wortreich und gestenreich pubertierende Taugenichtse. Weder formal noch thematisch birgt Hammersteins Text mehr authentische Subversion als ein trendy Prada-Meinhof-T-Shirt. Die „120 Tage von Berlin“ bleiben ein Roman-Placebo.
Lukas Hammerstein: Die 120 Tage von Berlin. Roman, Collection S. Fischer, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 220 S., 10,00 Euro