Nachrichten aus der Käseglocke - Peter Härtling veröffentlicht seine Memoiren: “Leben lernen” (SZ, 17.12.03)
Peter Härtling erzählt mit Vorliebe die Biographien von kanonisch abgesicherten Kulturheroen nach: Franz Schubert, Friedrich Hölderlin, E. T. A. Hoffmann, Robert Schumann. Jetzt also Peter Härtling. Nach siebzig Lebensjahren blickt der Autor zurück. Plastisch beschreibt er seine Chemnitzer Kindheit im Dritten Reich und seine Jugend als Flüchtlingskind, das nach einer Odyssee über Wien im schwäbischen Nürtingen ankommt. Der Vater stirbt in einem Kriegsgefangenenlager, die Mutter nimmt sich das Leben. Die Schilderung dieser Jugend eines Frühwaisen sind der gelungenste Teil von Härtlings Erinnerungen. Der Autor läßt eine Epoche wieder auferstehen, erinnert sich an entbehrungsreiche Zeiten. Härtling ist ein geübter Erzähler, der über all die Jahre einen eingängigen Ohrensessel-Sound entwickelt hat. Nicht zu viel Analyse, einfache Diktion, vor allem aber Anekdoten, Anekdoten, Anekdoten. Der Mensch setzt sich im Großen und Ganzen zusammen aus „Gemüt“, „Herz“ und „Seele“, wenn er Pech hat, schwärt irgendwo in seinem unübersichtlichen Innern noch eine „Wunde“, das war’s dann aber auch schon. Das Leben ist ein Volkslied. Schnell entfacht der Leser auf einer imaginären Tonspur ein knisterndes Kaminfeuerchen. Härtling lesen ist unglaublich gemütlich.
Früh entwickelt sich das elternlose Kind zum leidenschaftlichen Leser. Der Bildungshunger des Waisen ist unersättlich. Kultur wird zum elitären Distinktionsmerkmal des fremden Flüchtlingskindes: „Selbstverständlich wußte ich mehr über Rilke, Trakl und Borchert als die Banausen, und Max Herrmann-Neisse kannten sie nicht einmal dem Namen nach.“ Die Banausenwelt ist seine nicht. Seine Ersatzväter sucht sich Härtling sehr früh unter Künstlern und Intellektuellen. Das wird sich niemals ändern. In seiner Jugend verfügte Härtling über starke rebellische Energien. Seine Liebe zu Wolfgang Borchert und seine kompromißlose Abneigung gegen die faschistischen Literaturvorstellungen eines Deutschlehrers lassen ihn aus eigenem Entschluß vom Gymnasium gehen. Ohne Abitur, ohne Studium lernt er den Journalismus von der Pieke auf, ganz alte Schule. Vom lokalen Scheunenbrandreporter wird er schnell zum globalen Debattierfeuilletonisten.
Härtling ist ein hochbegabter Netzwerker, verschickt seine Gedichte an jeden etablierten Lyriker, der eine feste Postadresse hat. Er hat ein großes Talent für dauerhafte Freundschaften. Seine Karriere ist fulminant, er kennt jeden und ist stolz darauf. Er ist sensibel für die Machtstrukturen der verwalteten Kultur: „Ich war mir durchaus bewußt, jeden Tag mit einem Dichter zusammenzuarbeiten, der für uns jüngere Schreiber eine Macht darstellte“, schreibt er über Hans Bender. Härtling navigiert geschickt in diesen Strukturen. Kaum dreißig, wird er Mitherausgeber der Zeitschrift „Monat“, danach schnell Cheflektor des S. Fischer Verlages und schließlich dessen Geschäftsführer. Mit vierzig zieht er sich zurück, um sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Der Strom der literarischen Preise reißt nicht mehr ab. All diese Zirkusnummern nimmt er sehr ernst.
Journalist, Lektor, Dichter, Romancier. Der Mann weiß, was er will. Er will Kultur. Härtling ist überall dabei, wo Kultur draufsteht. Seine Erinnerungen an das literarische Milieu der Republik sind eine Tour de Force durch Akademien, Jurys, Poetentreffs, Colloquien, Stipendiatenkemenaten, Elfenbeinturmzimmerchen, Lektorate und literarische Stammtische. Überhaupt, die literarischen Stammtische. Hier ballt sich das gesamte Spießertum der Mandarinkaste: Das rituelle Debattieren über Gott und die Welt, wichtigtuerisch spreizen sich die Pfauenräder, neblig dampft der Betriebsnudelauflauf. Links der Szondi, rechts der Bondy, und Härtling immer mittendrin. Kennt dieser Dichter wohl einen einzigen Maurer, Schreiner oder Elektriker? Können solche Männer auch mal einfach einen Wandschrank aufhängen?
Der Kulturbetrieb wird zu Härtlings Ersatzfamilie. Sein zweites Zuhause wird die Berliner Akademie der Künste. So sieht die mittlerweile auch aus. Wahrscheinlich gibt es inzwischen schon eine akademieinterne Pflegeversicherung. Heutzutage gibt es die allgegenwärtigen Talkshow-Wiedergänger, doch darf man bei all diesem blutleer flimmernden Schrecken nicht vergessen, daß es die Spezies des Podiumszombies schon sehr viel länger gibt. Härtling war sicherlich eines ihrer hartnäckigsten Exemplare. Mikrophon? Einen Vers habe ich noch! „Die Einladungen häuften sich. (…) Ich versuchte, halbwegs vernünftig über die Rederunden zu kommen.“ Härtling liest seine Gedichte in laufende TV-Kameras, Kathodenstrahl und Hexameter, und der Dichter fragt sich kein einziges Mal, ob da etwas vielleicht nicht zusammengehen könnte. Dabei hat er noch Adorno und Horkheimer bei S. Fischer persönlich empfangen. Aber eben nur empfangen.
Über große Strecken ist Härtlings Erinnerungstext nichts als die flache Wahrheit aus der Gelehrtenrepublik. Die letzten zweihundert Seiten lesen sich so spannend wie eine Unterschriftenliste gegen den Nato-Doppelbeschluß. Bei all dem hochkarätigen Namedropping würde man nur zu gerne an Großvater Härtlings Ohrensessel rütteln. Natürlich ist es hochinteressant zu lesen, wie zwei angetrunkene Herren mit imposanter Publikationsliste im Lebenslauf die komatös betrunkene Ingeborg Bachmann ins Bett schaffen und das Maximum an Lebensfülle erreichen, wenn sie der betäubten Dichterin fürsorglich die Schuhe ausziehen. Nur: Worin genau unterscheidet sich eine solche Anekdote von einem einfühlsamen Bericht über Dieter Bohlens Penisbruch? Härtling sagt nicht viel mehr als: Ich bin dabei gewesen. Wobei genau ist egal. Hauptsache Kultur.
Die Nähe des Literaturbetriebs zum spießbürgerlichen Kegelverein ist abstoßend. Und Härtlings unbedingter Kulturwille ist gespenstisch. Vor allem, weil sich der ehemals so rebellische Heranwachsende bedingungslos dem literarischen Kanon und den albernen Riten der organisierten Kultur unterwirft. Seine erste Tat als Cheflektor im S. Fischer Verlag wird die Wiederentdeckung und Veröffentlichung von Keyserlings „Wellen“ aus dem Jahre 1911 sein. Auf dem Pflasterstrand werden die ersten Mao-Bibeln umhergereicht und Härtling verlegt Edouard Graf von Keyserling. Als Verleger wird er immer besser im Wiederentdecken als im Neuentdecken sein. Es ist, als hätte der Vollwaise das väterliche Gesetz in der Bücherwand des Bildungsbürgertums entdeckt und folgte ihm nun blindlings.
Diese biedere, dozile Geisteshaltung schlägt sich im Stil des Autors nieder, ja ist eigentlich konstituierend für sein Werk. Härtlings Schaffen ist die Geburt der gehobenen Unterhaltungsprosa aus dem Geiste der akademischen Tischrede. Aus leeren Augen starren einen die Marmorbüsten der Dichterfürsten und genialischen Tonsetzer an. In der Schilderung und Beurteilung seiner so geliebten Kultur findet Härtling selten Formulierungen jenseits von vorgestanzter CD-Booklet-Prosa. Man liest den wiederkäuenden Kulturdiskurs vom genialischen Mozart, vom coelestischen Schubert, von dreihundert Jahren hilflosen Feuilletonphrasen. Selbst aus der Beschreibung einer avantgardistischen Performance wird bei Härtling noch feuriger Zigeunerkitsch: „Wir trafen uns in Vostells Atelier, der zündete seine präparierten Bilder an, und das Feuer fraß Spuren, schwarze Rinnsale, die sich in den großen, schwarzen Augen seiner spanischen Frau spiegelten.“ Olé.
Seine Bilder bricht Härtling aus den staubigen Kronen seiner bevorzugten Dichterfürsten. Nur zu gerne läse man mal ein Wort wie „Abgassonderuntersuchung“. So bewundernswert unakademisch seine Flüchtlingsjugend war, so akademisch und betulich wird der schnell etablierte Autor Härtling. Bei der Lektüre dieses Autors versteht man sehr viel besser das zornige Aufbegehren der Literatur der siebziger Jahre gegen den bürgerlichen Kanon. Angesichts dieser biederen Prosa bekommt man sofort Lust, eine Rolle doppellagiges Klopapier in die Schreibmaschine zu spannen und den psychedelischen Bewußtseinsstrom fließen zu lassen. Suggeriert der Buchtitel einen langsame Aneignung von Lebensnähe, hat man eher das Gefühl, der Autor hätte unter der Käseglocke des Kulturbetriebs das eigentliche Leben verlernt.
Das erste Kapitel dieser Erinnerungen trägt den Titel „Das alte Kind“. Härtling schildert darin, wie er als kleines Kind vor dem Spiegel seinen hochrespektierten Großvater imitierte. Als junger Autor wird er davon träumen, wie Mozart zu schreiben, pling, pling. Nicht etwa wie Schönberg, Berg oder gar, Gott bewahre, Bill Haley. Er wird sein Leben lang Maß nehmen an den gipsernen Ahnen, nicht an seinen Zeitgenossen. Peter Härtling ist ein Mann von gestern. Von diesem Gestern vermag er in seinen besten Momenten auf unterhaltsame Weise zu erzählen. In den Formen von vorgestern.
Peter Härtling: Leben lernen. Erinnerungen, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2003, 378 S., 22,90 Euro