Die O’Mustermanns - Roddy Doyles Eltern erzählen ihre irische Lebensgeschichte: “Rory & Ita” (SZ, 02.07.05)
Was suchen wir in Irland und irischer Memoirenliteratur? Wahrscheinlich den würzigen Torfgeruch, das Klappern der Milchkannen morgens um halb fünf, wenn schmatzend das Moor erwacht und die Gesänge der zähen Freiheitskämpfer über der Dublin-Bay erklingen. Wir suchen vierzehnköpfige Familien, die jubelnd und frei von jeglicher Existenzangst ihr dreizehntes Kind willkommen heißen und vor lauter Freude und Dankbarkeit noch den gichtkranken Großvater der Nachbarin oben in ihrer kleinen Dachkammer unterbringen. Gefangen in unserem deprimierenden BRD-Labyrinth aus Fußgängerzonen, Umgehungsstraßen, Waldorfparkhäusern und überquellendenden Altersheimen sehnen wir uns seit Heinrich Bölls „Irischem Tagebuch“ nach einem Inselreich der Ursprünglichkeit und der existentiellen Dringlichkeit, wo sogar aus dem bärtigen Mund des Kneipenbarden noch das Weltorakel spricht. Wir suchen in Irland die Asche unserer Mutter, unserer lieben, großen Urmutter, die uns etwas Geborgenheit gibt in ihrem sattgrünen Inselpubgroßfamilienuterus.
Kaum etwas dieser Sehnsucht vermag Roddy Doyle in der Lebensgeschichte seiner Eltern Ita und Rory zu stillen. Nahezu unkommentiert montiert er die Erinnerungen seiner Eltern zu einem unspektakulären Familienalbum. Abwechselnd erzählt das Ehepaar von Taufen, Tanzabenden und Lehrstellensuche. Geflissentlich haken sie die Pflichtstationen aller O’Mustermanns ab. Die beiden sind sympathische Personen. Schnell fühlt sich der Leser wie ein Austauschschüler bei einer freundlichen Gastfamilie, die schon nach dem zweiten Stück Cremetorte das eselsohrige Fotoalbum hervorkramt.
Gemütlich tickt die Standuhr, und alle sind unglaublich zuvorkommend. Aber leider auch ziemlich langweilig. Bald ist das Gesicht zum höflichen Dauergrinsen erstarrt. Mit vollem Magen und im sirrenden Kaffeerausch muß man tausendfältig verzweigte Stammbäume hinabklettern, um irgendwo an der dreizehnten Gabelung auf eine halbwegs amüsante oder ergreifende Anekdote zu stoßen. Wo früher die Torfkrume qualmte, flackert heute das elektrische Kaminfeuer, und die einzige Lesefreude besteht darin, sich das gute, alte Torffeuer vorzustellen. Ansonsten ist der Erkenntnisgewinn schmal. Natürlich, diese irischen Familien waren groß und unglaublich solidarisch, davon hat man schon in der Kurzeinführung des Reiseführers gelesen. Aber leider fehlen in diesen Erinnerungen interessante Charaktere, unterhaltsame Schicksalsschläge oder ungewöhnliche Blickwinkel auf historische Ereignisse.
Nun hätten sich diese Memoiren noch zu einer spannenden Alltagschronik entwickeln können, doch dafür mangelt es Doyles Erzählern an einem originellen Temperament. Ita und Rory haben weder Einfühlungsvermögen noch Phantasie. Sie wirken wie anästhesiert vom einlullenden Ticken der Standuhr. Jahrelang arbeitete Ita in der Pathologischen Fakultät des University College von Dublin, wo sie Krankenformulare ausfüllte. Freimütig gibt sie zu: „Damals war es einfach Papier für uns, erst Jahre später hat man sich gefragt, was für Geschichten vielleicht dahinterstecken.“ Gefühlstaube Menschen mit solch einem Mangel an Empathie taugen einfach nicht als interessante Zeitzeugen. Itas Erinnerung verfügt zwar über einen gut geölten Makrozoom, aber leider fördern ihre Nahaufnahmen immer nur die Muster ihrer alten Kleider, Tapeten und Bettvorleger zutage. Der Mensch beschäftigt sich nicht ungestraft ein Leben lang nur mit dem witzigsten Fußabtreter und dem adrettesten Fummel.
Über die ersten hundert Seiten vermag die einigermaßen folkloristische Zeitreise in das poetische Inselreich noch für die Banalität der Ereignisse zu entschädigen. Doch spätestens in der Nachkriegsära gleichen sich die irischen Lebensumstände so sehr den unsrigen an, daß keine klappernde Milchkanne und kein würziger Torffeuerqualm mehr die grausame Wahrheit dieser Chronik verdecken könnte: Man liest die Geschichte zweier Spießer.
Ita und Rory haben uns Poesiehungrigen nicht viel mehr zu sagen, als unser Nachbar in seinem Baumarkt-Gartenhäuschen bei der abendlichen Flasche Bier. Die großen Entscheidungen in diesem langweiligen Leben spielen sich vor allem in der Elektroabteilung der Kaufhäuser ab: „Als der Kochherd abbezahlt war, konnte ich zwischen einem Kühlschrank und einer Waschmaschine wählen. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe den Kühlschrank genommen.“ So sind sie, die irischen Kühlschränke: Nur allzu oft gewinnen sie das unerbittliche Duell mit ihren größten Widersachern, den irischen Waschmaschinen.
Die unerschütterliche Selbstzufriedenheit von Doyles Eltern ist deprimierend. Sublime Momente schenkt hier nur die Backkunst: „Ihre Scones waren einmalig.“ Doyle präsentiert eine kuschelige Welt der Vormoderne. Die kleine Straße im Speckgürtel von Dublin ist der Wurmfortsatz der Geschichte, den nicht mal ein Weltkrieg zusammenzucken läßt. Ita und Rory spüren ihn nicht. Sie stricken, backen und tanzen einfach weiter. Diese Leben werden vom lethargischen Imperativ regiert: „Bei den jungen Leuten war es so wie damals überall – man tat, was einem gesagt wurde.“ Das Happy End bringt Eigenheim, Fernseher und Pauschalreise. Die Abenteuer erleben immer die Nachbarn: „Nach mehreren Umzügen landeten die Mays in London, wo sie eine Pension kauften. Barney wurde von einem seiner Gäste erschossen und Ena schwer verletzt.“
In den seltensten Momenten schwappt einmal kurz das tobende Leben über den Gartenzaun: „An einem denkwürdigen Tag hing sogar mal Damenwäsche mit Rosenmuster in unserer Hecke.“ Selbst in solchen heißen Momenten gilt Itas Interesse vor allem dem Stoffmuster. Röslein, Röslein auf der Heide, manche schickst du ins Eros-, andere ins Garten-Center. Als suchte Doyle verzweifelt ein wirksames Gegengift zu diesem Dokument des faden Lebens, streut er Fußnote um Fußnote in die Erinnerungen seiner Eltern ein, als müßte er die Schriftrollen von Qumran annotieren.
Doyle hat dem Buch ein Zitat seiner Mutter Ita vorangestellt, das wie eine Kampfansage an alle Verfechter von Patchwork-Biographien klingt: „Mein ganzes Leben lang habe ich nur in zwei Häusern gewohnt, habe nur zwei Jobs gehabt und einen einzigen Ehemann. Ich bin eine sehr interessante Person.“ Das will bewiesen werden. Leider gelingt es weder Ita noch ihrem Mann, ihren banalen Lebensumständen eine funkelnde Innenwelt oder gar eine außergewöhnliche Sprachkraft entgegenzusetzen. Ein Gemeinplatz besagt, die interessantesten Geschichten schreibe das Leben selbst. Doch in Wahrheit ist das Leben ein hundsmiserabler Autor. Zu 99 Prozent schreibt es für die Schublade. Diese irische Lebensgeschichte gehört dazu. Es hätte schon eines sehr begabten Autors bedurft, dieses zähe Rohmaterial zu einem lesenswerten Buch zu formen.
Roddy Doyle: Rory & Ita. Eine irische Geschichte, Carl Hanser Verlag, München Wien 2005, 316 Seiten, 21,50 Euro