Stephan Maus

Patrick Hamilton: ‘Hangover Square’ (SZ)

Das Große Ludereinmaleins: Patrick Hamilton schildert die nervenzehrenden Freuden der Bohème: “Hangover Square” (SZ, 16.11.05)

Netta, Du Aas! Was bist Du denn für ein Luder? Kannst doch den guten, armen Bone nicht derart zugrunde richten. Er ist zwar ein Tor, aber noch lange kein Grund. George Harvey Bone gehört zu einer Clique von Müßiggängern, die in den dreißiger Jahren ihr Lotterleben im Londoner Stadtviertel Earl’s Court verbummeln. Möchtegern-Schauspielerinnen, Schlägertypen, die übliche Mischung. Wenn die Pubs schließen, trinkt man noch ein paar Gin zuhause am Kamin. An Nettas Kamin. Netta fläzt sich in ihrer Couch, räkelt sich auf ihrer Ottomane, schlägt aufreizend ihre pfirsichflaumigen Alabasterbeine übereinander oder stolziert in knapper, viel zu knapper Unterwäsche durch den Salon.

Netta hat wenig anderes im Kopf als gut zu essen, ein bißchen zu schnorren und hin und wieder vielleicht ein Mann. Aber nur, wenn er nach der Morgenzigarette nicht zu lange bleibt. Bitte keine Kletten. Bitte keine Bones. Diese Frau ist „entsetzlich attraktiv“, und Bone hängt mit pfeifendem Kopf im Magnetfeld ihrer hocherotischen Aura. Netta schlägt größtmögliches Kapital aus Bones unterwürfiger Ergebenheit. Sie läßt ihn an ihrem schlanken, langen linken Arm verhungern und zieht ihm derweil mit dem rechten Pfund um Pfund sein mühsam Erspartes aus der Anzugtasche. Sie erniedrigt ihn nach allen Regeln des Großen Ludereinmaleins, und ist er wieder mal ganz unten angekommen, gewährt sie ihm einen kleinen, flüchtigen Kuß, um ihn wieder aufzupeppeln für die nächste steile Achterbahnfahrt hinab gen Liebeshölle. Der freundlichste Satz, den er jemals von Netta zu hören bekommt, lautet: „Wahrscheinlich ist er so töricht, weil er so groß ist.“ Bone ist hingerissen von solch einem unverhofften Beweis von Nettas Zuneigung. Der Mann ist eine Suchtnatur und kommt weder von der Flasche noch von der Natter Netta los.

Zechen, wachen, schmachten: Das Bohème-Leben in Earl’s Court ist überaus nervenzehrend. Bones Körper wehrt sich gegen diesen Raubbau mit geheimnisvollen Anfällen, in denen sich ein Schleier zwischen ihn und die grausame Welt legt. In diesen „tumben Momenten“ macht es Klick! in seinem Kopf, und er taucht in einen anderen Bewußtseinszustand, in dem er die Welt nur noch gedämpft wahrnimmt. Nach dem Klick! weiß er plötzlich immer ganz genau, was zu tun ist: „Er mußte Netta Longdon töten.“ Warum? Der Refrain des Romans gibt Auskunft: „Es zog sich schon zu lange hin.“ Nach vollbrachtem Mord könnte er endlich zurück nach Maidenhead und zur Ruhe kommen. Kein Gin mehr, kein Kamin und keine Alabasterbeine. Maidenhead! Jener verwunschene Ort, wo er früher so glücklich gewesen ist mit seiner geliebten Schwester. Gewöhnlich dauern diese Anfälle nicht sehr lange, und bevor Bone seinen Job erledigen kann, erwacht er wieder in die Realität und hat alles vergessen. Der arme Gimpel führt zwei parallele Leben: Das eines verschmähten Liebhabers und das des potentiellen Mörders seiner Angebeteten.

Die Welt ist grausam mit den großen, netten, tumben Toren. Mit zähnefletschendem Sarkasmus schildert Patrick Hamilton, wie ein niederträchtiges Rudel häßlicher Menschen den liebenswerten Bone zugrunde richtet. Während auf dem Kontinent die Nazis in Polen einmarschieren, demütigen die bekennenden Faschisten aus der Londoner Bohème Tag um Tag ihren großen törichten Freund. Dieser Roman über das Bohème- und Trinkerleben in einem finsteren Londoner Stadtteil läßt sich auch als eine bittere Abrechnung mit dem häßlichen Menschen lesen. Unter ihrer verführerischen Makellosigkeit birgt Netta nur zerstörerische Vulgarität und seelische Verkommenheit. Die Unmenschlichkeit dieser Clique ist zwar gänzlich unpolitisch; diese Nichtsnutze sind zwar einfach nur Widerlinge. Aber ihr kaltes Herz ist ebenso todbringend wie das der tobenden Nazimörderbande jenseits des Ärmelkanals. Während England Hitler den Krieg erklärt, zieht der immer wahnsinniger werdende Bone in seinen persönlichen Feldzug gegen die häßliche Bande aus Earl’s Court. Man kann ihm nur zustimmen, wenn er über Netta sinniert: „Getötet zu werden geschah ihr eigentlich enorm recht.“

Mit lakonischem Humor beschreibt Hamilton die Parallelwelt seines traurigen Trinkerhelden, dessen Wahnideen allesamt im Kleid einer vorgespiegelten Drolligkeit daherkommen, die die Traurigkeit des wachsenden Wahnsinns noch potenziert: „Wenn er nicht aufpaßte, wurde es wieder kalt, und er konnte sie erst nächstes Jahr töten.“ Im Kopf des tumben Tors macht es nicht nur Klick!, sondern dieses empfindsame und verletzliche Organ destilliert auch immer wieder schöne Poesie. Schon ein einfaches Telefonat mit der Angebeteten wird dem Liebstollen zur magischen Séance: „Wie von Geisterhand wurde er in das unbekannte Paradies befördert. Er selbst, die imaginäre Leitung und das Telefon verschmolzen zu einem Instrument, das in ihrer Wohnung klingelte, auf dem Tisch neben ihrem Bett.“

Man bedauert etwas, daß der Autor seinen Figuren nur wenig Geheimnisse läßt. Hamilton kennt keine Zwischentöne. Bone bleibt die ewige Opfernatur, und Netta ist rund um die Uhr bis ins Mark verdorben, was der Autor auf jeder Seite überdeutlich unterstreicht. Doch Verdorbenheit ahnt man lieber. Auch hätte man gerne auf die überflüssigen Wechsel der Erzählperspektive verzichtet, mit deren Hilfe Hamilton die Innenwelt seiner Hauptfiguren ausleuchtet und ihnen dabei doch nur jede Zweideutigkeit nimmt. Für den Leser wäre es reizvoller gewesen, ohne korrigierende Perspektiven unterschiedlicher Nebenfiguren einzig zwischen Bones beiden Bewußtseinszuständen zu oszillieren und so die finstere Welt von Earl’s Court in einem verzerrenden Londoner Dunst zu betrachten. Aber mit den erzähltechnischen Errungenschaften der Moderne hat Hamilton nur wenig am Hut. Er bevorzugt das konservative Prosahandwerk, das er ganz ausgezeichnet beherrscht.

Klick! Steht da oben, man bedauere irgend etwas? Ach was, man bedauert eigentlich gar nichts. Dieser Roman ist so sympathisch, birgt so viele schöne lyrische Passagen und ist bei alle seiner Traurigkeit doch so komisch, daß der Leser ergriffen dem Leidensweg des guten alten Bone folgt und sehnsüchtig auf jenen Moment wartet, wo das Klick! in seinem Kopf auch das Klick! in Nettas Schädel sein wird. Ein letztes, lautes Klick!


Patrick Hamilton: Hangover Square. Roman, Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, Dörlemann Verlag, Zürich 2005, 380 Seiten, XX,YY Euro