Stephan Maus

Adam Fawer: ‘Null’ (SZ)

Im Labyrinth der Albernheiten: Adam Fawers stochastischer Thriller “Null” (SZ, 05.12.05)

Wahnsinn. Der Spieler, Statistik-Dozent und Kopfrechengenius David Caine ist ein stochastischer Supermann. Noch während die Würfel fallen, könnte er mühelos die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der sie vom Spieltisch rollen, direkt unter die selbsthäutenden Python-Pumps der sexy Kellnerin, die daraufhin ins Stolpern gerät, wobei ihr das Tablett aus den Händen segelt, genau zwischen die frisch gerichteten Zähne eines schlummernden Pekinesen, der von dem Schreck derart traumatisiert wird, daß er eine halbe Stunde später auf dem Broadway der Geliebten des UN-Generalsekretärs in die selbsthäutenden Python-Pumps beißt, woraufhin illico 15.000 Blauhelmsoldaten nach Peking entsendet werden. Oder so.

Wie macht Caine das? Er ist Epileptiker. Die können so was. Leider werden Caines Berechnungen immer wieder von seinen Anfällen gestört. Stichwort Hirnchemie. So verspielt er in einem russischen Zockerclub der New Yorker Unterwelt 10.000 Dollar. Jetzt hat er die grimmige Russenmafia an den Hacken. Dazu kommen bald die noch grimmigere CIA, der nordkoreanische Geheimdienst und eine durchtrainierte Ex-Speznaz-Agentin, deren Brüste sich verführerisch im Nahkampf wiegen. Sie alle wollen David Caine und seinen Zwillingsbruder Jasper, denn deren besondere Hirnchemie erlaubt es ihnen, mit der Ewigkeit in Kontakt zu treten. Über das Hintertürchen ihres Temporallappens spazieren sie ins Immer, wo sie in astralem Gleißen das Gestern, das Heute und das Morgen schauen. Zugang zu diesem Jung’schen Kollektiven Unbewußten haben sie allerdings nur, wenn sie vorher gut die Augen schließen. Und nicht blinzeln, David! Im Banne seiner epileptischen Aura wird Caine schließlich mit Hilfe von Dr. Kumars experimentellem Wunderwässerchen zum Laplace’schen Dämon höchstpersönlich, jenem allwissenden Dschinn des Determinismus’.

Adam Fawer hat Statistik studiert. Das muß anstrengend sein. Er hat die Wahrscheinlichkeitsrechnung zum Motor seines Wissenschaftsthrillers gemacht. Eine gute Idee, denn ist nicht der magische Zufall die wichtigste Zutat eines jeden Thrillers? Die sagenhaften Unwahrscheinlichkeiten der Unterhaltungsliteratur zu thematisieren, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie vielleicht sogar zu parodieren – das alles wären durchaus fruchtbare Techniken, mit denen sich ein eleganter Unterhaltungsroman entwickeln ließe. Man träumt von einem Text, dessen Plot sich so raffiniert verzweigt wie ein in prachtvoller Blüte stehender Wahrscheinlichkeitsbaum, dessen Zweige einzig dem Tropismus der Stochastik gehorchen.

Hätte, wäre, könnte. Fawer spürt leider nicht den interessant verzweigten Ästen des großen Möglichkeitsbaumes nach, sondern macht es sich lächerlich leicht und schreibt immer ganz dicht am dicken, geraden Stamm der plumpen, wurmstichigen Unwahrscheinlichkeit entlang. Er komponiert nicht etwa eine raffinierte Musik des Zufalls, sondern grölt den blöden alten Gassenhauer vom Deus ex Machina und all seinen willigen Hilfsgeistern sonder Zahl. So entsteht ein uninspirierter Shoot-and-Run-Thriller, wie sie jede Saison zu Tausenden auf den schnellebigen Unterhaltungsmarkt geworfen werden.

Polternde Fässer rollen den Helden in die Quere, nur, um übersprungen zu werden. Achtung, da fliegt ein Cadillac durchs Schaufenster! Was knattert denn da so? Oh mein Gott, ich glaube, sie haben uns einen verdammten Hubschrauber auf den Hals geschickt! So hechelt ein völlig konturloser Epileptiker durch ein Labyrinth der Albernheiten, schon bald assistiert, verarztet und geherzt von dem ballernden, würgenden und eiertretenden Speznaz-Schatz mit dem modischen Nachtsichtgerät auf der Nase. Bräuchte diese Lara Croft unverzüglich einen Panzerkreuzer, sie würde auch diesen noch aus ihrem Rucksack ziehen.

Fawers Figuren sind fleisch- und geistlose Variablen in seinen einschläfernd simplen stochastischen Gleichungen. Vom Schläger der Russenmafia bis zum skrupellosen Wissenschaftler mit der Zauberspritze hinterm bedrohlich leuchtenden Ohr hampeln sämtliche Marionetten der Thrillerpuppenkiste durch den Text. In wichtigen Nebenrollen: Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, die Unschärferelation und der schizophrene Welle-Teilchen-Dualismus. Sprachlich bewegt sich dieser Thriller allenfalls auf dem Niveau der frühen Enid Blyton.

Der Roman spielt im luftleeren Raum, dabei bietet doch gerade das Thriller-Genre die einmalige Möglichkeit, mit Hilfe eines stürmisch vorwärts drängenden Protagonisten interessante Städte und Landschaften zu erkunden. Doch hier staksen die Figuren nur durch öde Pappmaché-Kulissen. Am ärgerlichsten jedoch ist die Reduzierung von Wahnsinn und Epilepsie auf ein gemütliches Vorzimmer zur Hellseherei. Die Wahnpatienten betrachten ihre Visionen so ruhig und gelassen wie Max Mustermann das Teflon-Pfannen-Special des Teleshopping-Kanals. Fawers simple Formel lautet Erzählenergie = (Genie x Wahnsinn)2. Zum Schluß gewährt der Autor seinem prophetischen Helden sogar noch ein Kaffeekränzchen mit den Parzen und Moiren, die ihm die geheimen Knüpftechniken der großen Makrameeblumenampel unseres Schicksals erklären. Die Lektion dieses Thrillers aber läßt sich auf die seit Jahrtausenden geltende aristotelische Grundregel der Dramaturgie reduzieren, die da lautet: „Shit happens.“ Und zwar alle drei Seiten.

Dieser Verhau kruder Beliebigkeiten hat nicht einmal das Format, um als schillernde Pulp-Fiction genossen zu werden. Fawers Aneinanderreihung von stereotypen Erzählmustern und abgegriffenen Entertainment-Topoi fehlt jene Portion abstrusen Wahnsinns, die selbst einen scheinbar konventionellen Text noch in den Rang greller Poesie oder mythischer Sagen erheben kann, und die zum Beispiel die „Fantômas“-Delirien von Sylvestre und Roux zur Lieblingslektüre der Surrealisten machte. Konventionelles Erzählen kann nur Freude bereiten, wenn die einzelnen stereotypen Versatzstücke zu einem überraschenden oder amüsanten Patchwork kombiniert werden. Genau das wäre die Chance eines Thrillers über Wahrscheinlichkeitsrechnung gewesen. Doch dieser Roman klingt einfach nur, als hätte Franz „Ich kann nur kurze Sätze“ Müntefering den Vox-Mitternachtsthriller protokolliert: „Sie mußte sich konzentrieren. Auf Caine. Ihre Mission. Ihr Ziel.“

Dieses Stammel-Stakkato soll natürlich jenen atemraubenden Thrill erzeugen, für den unser Sauerland zu Recht so berühmt geworden ist. Aber hier will leider so gar nichts thrillen. Ungelenk flicht Fawer alle fünfzig Seiten ein zähes Referat über Quantenphysik, Newton’sche Gesetze, Schrödingers Katze und andere halbverdaute Evergreens der Physik-Popkultur in seinen Text, um seinem Humbug einen pseudo-wissenschaftlichen Überbau zu verleihen. Kaum haben die üppigen Brüste der russischen Nahkampfexpertin ausgewackelt, wölbt sich auch schon eine Gausss’sche Glockenkurve ins Textbild, auf deren X-Achse sich der aufgepeitschte Leser ein wenig ausruhen und sich im Schatten lieblos aufbereiteter Populärwissenschaft gepflegter Langeweile hingeben darf.

Statt das Genre mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie unter die Lupe zu nehmen, hat der Autor die Stochastik als schlecht sitzendes Deckmäntelchen mißbraucht, das seine Unfähigkeit, einen überraschenden Plot zu konstruieren, kaschieren soll. Dieser zusammengestümperte Wissenschafts-Pop taugt allenfalls zur Entspannung für hoffnungslos überarbeitete Versicherungsmathematiker. Der Rest wird mit hundertprozentiger Sicherheit dank eines wahllosen Griffes in den quietschenden Drehständer der nächsten Bahnhofsbuchhandlung einen inspirierteren Unterhaltungsroman finden. Vielleicht wird es dann sogar ein Werk des sehr gut beleumundeten deutschen Science-Fiction-Autors Frank Böhmert sein. Ein Erfolg wäre ihm sehr zu wünschen. Dann müßte er nicht mehr so farblose Schundromane wie den vorliegenden mit übersetzen.


Adam Fawer: Null. Thriller, Aus dem Amerikanischen von Jochen Schwarzer, Frank Böhmert und Andree Hesse, Kindler, Reinbek 2005, 592 S., 19,90 Euro