Stilblüten aus Nazareth: Eric-Emmanuel Schmitt schreibt ein fünftes Evangelium (SZ, 28.01.06)
2003 fiel der französische Autor Eric-Emmanuel Schmitt erstmals mit seiner herz- und nierenwärmenden Toleranzpredigt „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ unangenehm im deutschen Sprachraum auf. Dieses reine Herzensbalsam aus den kostbaren Ingredienzien Ringparabelblüten, Lebensweisheit und Streetworkerbeseeltheit lehrte uns, daß nicht jeder Muselmann einen Sprengstoffgürtel um seine Hüften trägt. In einfachen Sätzen überzeugte uns die Erbauungsgeschichte von der Weisheit und Güte arabischer Tomatenverkäufer. Schmitts Beitrag zur Völkerverständigung war größer als der zur Literaturgeschichte. Sein sanftmütig parabelnder Roman war ein weiteres Beispiel jener genuin französischen Kitschvariante, die uns seit „Die fabelhafte Welt der Amélie“ regelmäßig die Gauloise aus dem verblüfften Mund fallen läßt.
Nach den Blumen des Koran nun also die Dornenkronen der Bibel. Als nächstes dann wahrscheinlich der Maulbeerbaum des Mahabharata. Mit Schmitts neuestem Werk steht also wieder Schlimmstes zu befürchten. Und gleich auf den ersten Seiten bestätigen sich alle bösen Vorahnungen. Schmitt hat seinem „Evangelium nach Pilatus“ die gut 80-seitige Lebensbeichte eines gewissen Monsieur Jeshua aus Nazareth vorangestellt. Monsieur Jeshua ist nicht etwa Tomatenverkäufer, sondern Zimmermann, wird Opfer seines eigenen Berufsstandes und landet an einem handgezimmerten Kreuz auf dem Golgatha. Die Geschichte kommt uns bekannt vor.
Tapfer und unverzagt, mit einem Mut, der angesichts seiner doch recht begrenzten literarischen Fertigkeiten an rührenden Größenwahn grenzt, macht sich Schmitt daran, ein apokryphes fünftes Evangelium zu schreiben. Noch einmal liest man die Lebensgeschichte Jesu, diesmal aus der Ich-Perspektive. Ein gefährliches Unterfangen, denn von dem leibhaftigen Gottessohn erwartet man, daß nicht nur regelmäßig der Heilige Geist auf ihn hernieder fährt, sondern ihm auch hin und wieder die literarische Gnade zuteil werde. Wird sie aber nicht. Selbst auf Palästinas sandigem Boden wuchert die unverwüstliche Stilblüte: „Die Esel hoben die Köpfe und sahen mit ihren schönen, schwarzen Mädchenaugen mein Schiff durch die Sterne gleiten.“ Abgesehen von solch eschatologisch funkelnden Eseleien ist diese Zimmermannsbeichte aus einfachstem Holz geschnitzt. Die Menschwerdung Gottes mag durchaus ein begrüßenswertes Konzept sein. Aber muß der Heiland deshalb gleich wie ein dahergelaufener Gast bei „Vera am Mittag“ plaudern? Diese Beichte liest sich wie das Evangelium nach Lieschen Müller. Schnell wird klar, daß man mit den stilistischen Mitteln eines durchschnittlichen Webloggers nicht überzeugend die Sprache des Fleisch gewordenen Allmächtigen nachbilden kann.
Das einzig Originelle dieses apokryphen Evangeliums ist die außergewöhnliche Rolle, die der Autor Judas zukommen läßt. Schmitt macht ihn zum treuen Jünger seines Herrn, der ihn aus Loyalität verrät, um die Heilsgeschichte zu vollenden. Diese interessante Idee findet sich zwar schon in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Drei Fassungen von Judas“ aus dem Erzählband „Fiktionen“ (1956), doch Schmitt gestaltet sie noch ausführlicher aus und macht Jehuda sogar zu Jesus’ Lieblingsjünger. Das vermag zu überraschen, ebenso wie Schmitts Vision eines tief zweifelnden Jesu, der sich bis zu seinem Tode fragt, ob er nun wirklich der Sohn Gottes ist oder nicht doch nur einer jener größenwahnsinnigen Propheten, wie sie sonder Zahl durch Palästina ziehen.
Schmitt sieht seinen Jesus im Lichte Pascals: Monsieur Jeshua aus Nazareth schließt eine Wette auf seine eigene Göttlichkeit ab. Am Abend vor seiner Kreuzigung sinniert der Messias: „Wenn mir heute abend versichert würde, daß ich unrecht hatte, würde ich die Wette noch einmal eingehen. Warum? Weil ich nichts verliere, wenn ich verliere. Doch wenn ich gewinne, gewinne ich alles. Und teile mit euch den Gewinn.“ Einzig in diesem schönen Gedankengang ist Schmitts Hang zum Pathos gerade noch genießbar. Ansonsten greift seine Erleuchtungspoesie allzu oft auf Bilder und Klischees aus 2000 Jahren Erbauungsliteratur zurück. Wieder einmal wird einem bewußt, daß es gerade der spröde, wüstendürre Ton der Evangelien jenseits aller Betschwesterfrömmigkeit und Herzjesu-Sentimentalität ist, der ihren literarischen Reiz ausmacht.
Monsieur Jeshua verscheidet am Kreuz, und mit ihm offenbar Schmitts Roman auf Seite 80. Doch nun vollzieht sich nicht nur ein religiöses, sondern auch ein kleines literarisches Wunder: Nach der frömmelnden Beichte des Messias erzählt Schmitt nun durchaus überzeugend die bewegten Tage in Jerusalem nach der Kreuzigung Christi aus der Perspektive des Pontius Pilatus. In Briefen an seinen „lieben Bruder Titus“ in Rom berichtet der römische Statthalter von seinen anstrengenden Verwaltungsaufgaben. Mit diesem eigentlichen „Evangelium nach Pilatus“ entwickelt sich der Text nun von einer weihevollen spirituellen Meditation hin zu einer handfesten Erzählung mit interessantem Zeitkolorit. Es bereitet Vergnügen, all die alten Bekannten in zum Teil überraschenden Rollen wiederzusehen: So finden wir die grausame Salomé am Fuße des Kreuzes als gläubige, leicht wahnsinnige Christin wieder. Und das Porträt des römischen Statthalters als pragmatischer Rationalist, der mit den Mitteln seiner am griechischem Kynismus geschulten Vernunft versucht, das Wunder der Auferstehung zu verstehen, ist überraschend gelungen.
Die Leiche eines jüdischen Wanderprediger ist verschwunden, in Palästina droht eine Volkshysterie, und der Statthalter Roms muß für Ordnung sorgen. Pontius Pilatus wirkt wie ein überforderter Nahost-Beauftragter, der in all dem fundamentalistischen Durcheinander den Überblick verloren hat. Überall vermutet er Intrigen. Doch nach und nach wird der rationalistische Panzer des Römers immer durchlässiger, und schließlich befällt auch ihn der Zweifel. So spiegelt der Zweifel des Römers den des Nazareners wider. Diese Symmetrie unterstreicht die Lektion von Schmitts moralischer Erzählung: Glauben heißt für ihn zweifeln. Diese verborgene, tief in die Struktur der Erzählung eingearbeitete Moral ist wesentlich reizvoller als alle offensichtlichen Toleranzpredigten gegen Fundamentalismus.
War die Predigt Jesu noch eine beliebige Meditation im luftleeren Raum, so gewinnen die detektivischen Ermittlungen des römischen Statthalters nun wenigstens etwas an Farbe. Am Gedankenhorizont zeichnet sich vibrierend Jerusalem ab, und Schmitt hätte gut daran getan, noch etwas mehr einzutauchen in diese brodelnde Stadt, die Pontius Pilatus so sehr haßt. Wie gerne hätte man etwas von der orientalischen Pracht wiedergelesen, die man zum Beispiel aus Flauberts „Salammbô“ kennt. Leider hat sich der Autor nicht genug ins Getümmel gestürzt. Vergleicht man seine Version der Heilsgeschichte mit Ernest Renans detailreichem „Vie de Jésus“ oder mit Robert Graves opulent schillerndem Historienschmöker „King Jesus“, bleibt sein Text etwas blaß. Seine schmale Pilatus-Erzählung läßt sich eher in die Tradition des leichten Conte philosophique einordnen, als in die des historischen Romans. In seiner Nachbemerkung gibt Schmitt denn auch zu, daß ihm das Ausufernde des Romangenres schwerfällt: „Warum wird Genauigkeit bei mir immer zur Gedrängtheit? Ist das ein Vorzug oder ein Zeichen der Ohnmacht? Ein Satz läßt mich mehr zittern als ein Absatz. Eine Skizze reizt mich mehr als eine vollendete Beschreibung.“
Ausufernde Nachworte hingegen scheinen ihm leichter zu fallen: Auf den fast 50 Seiten einer „Chronik eines gestohlenen Romans“ berichtet er vom Diebstahl seiner Schreibcomputer mitsamt seinem Manuskript, an dem er angeblich zehn Jahre gearbeitet hat. Dieser Zwischenfall bringt ihn dazu, den Roman in einem Zug per Hand aus dem Gedächtnis zu niederzuschreiben. Während dieser Séance entsteht nun nebenher ein unerträglich eitler Werkstattbericht, in dem Schmitt die Genesis seines Manuskriptes mit einem hagiographischen Schimmer versieht, der seinem Roman endgültig testamentarische Weihen verleihen soll. Muß ein Text, der nicht etwa aus den kalten, digitalen Archiven der Festplatte zusammengeklebt ist, sondern in einem Zug glatt durch die reinigenden Filter der warm pulsierenden Hirnlappen strömte, nicht fürwahr aus einer göttlichen Quelle sprudeln? Der Autor inszeniert sich als prämodernen Evangelisten, der handschriftlich Zeugnis ablegt. Dabei verfällt er in einen eitlen Ton der Selbstbeweihräucherung. Er porträtiert sich als Hohepriester des offenbarten Wortes, was bei der Qualität seines Textes einigermaßen albern ist.
Leider scheint Schmitt durch den Erfolg seines letzten Romans inzwischen so viel Macht zu haben, daß sein Verleger Richard Ducousset ihm das peinliche Nachwort nicht verbieten konnte. Ebensowenig, wie ihm die Lektoren seines französischen Verlages Albin Michel die Beichte des Nazareners streichen durften. Dabei waren ihre Einwände wider die Beichte Jesu, von denen Schmitt so empört in seiner Nachbemerkung berichtet, vollkommen berechtigt. So ähneln sich römische Statthalter und französische Bestsellerautoren: Beiden täte es gut, vertrauten sie hin und wieder ihren Beratern. Dann hätte Schmitt nämlich lernen können, daß es für einen Schriftsteller mit missionarischem Eifer sehr heilsam sein kann, sich an einem Anti-Helden abzuarbeiten, statt sein eigenes Helden-Double ins literarische Rennen zu schicken. Besonders, wenn dieses Double ein Monsieur Jeshua aus Nazareth ist.
Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus. Roman, Aus dem Französischen von Brigitte Grosse, Ammann Verlag, Zürich 2005 298 S., 18,90 Euro