Stephan Maus

Laurence Cossé: ‘Der 31. Tag des Monats August’ (SZ)

Schwarze Limousine, weiße Nuckelpinne - Die Wiedergeburt von Lady Di: “Der 31. Tag des Monats August” von Laurence Cossé (SZ, 06.03.06)

Am 31. August 1997, kurz nach Mitternacht, wann sonst, raste ein schwarzer Mercedes gegen einen Pfeiler des Pariser Almatunnels. Im Fond saßen der ägyptische Milliardär Emad, genannt Dodi Al-Fayed, und Lady Spencer, Princess of Wales, genannt Lady Di. Dodi and Di died, die Parzen texten kalauernde Boulevard-Schlagzeilen. Das Leben der ehemaligen Kindergärtnerin Spencer war ein sagenhafter Schundroman, den weder Seiten-, Decken- noch Frontalairbag hätten retten können, und hätte ihn nicht die Wirklichkeit geschrieben, sondern ein Schriftsteller, kein halbwegs zurechnungsfähiger Verlag hätte ihn gedruckt. Königin der Herzen, arabischer Märchenprinz, Chauffeur mit Prozac und Whiskey im sündigen Blut, nächtliche Flucht aus dem Ritz, Tod am Ufer des Flusses aller Liebenden, im Blitzlichtgewitter der Paparazzi verwandelt sich die Seine in den Styx, Verschwörungstheorien sonder Zahl, zum Abspann klimpert Elton John „Candle in the wind“: Herr, hilf! Es gibt wohl wenige Themen, mit denen man einen Roman krachender gegen die Wand fahren kann.

Aber Laurence Cossé macht alles richtig in ihrem perfekten Spannungsroman um den königlichen Unfall. Sie konzentriert sich nicht auf die Königin der Herzen, sondern auf ein sehr unscheinbares Entlein am Rande des Geschehens. Bevor Lady Dis schwarzer Mercedes den Tunnelpfeiler des Hades’ rammte, streifte er einen weißen Fiat Uno. Dieser Wagen und sein Fahrer wurden nie gefunden. Aus dem Kontrast zwischen diesen beiden Karossen, schwarz und weiß, Limousine und Nuckelpinne, entwickelt die Autorin ihren Text. Cossé setzt Lady Dis exaktes Gegenbild hinters Steuer des proletarischen Fiat Uno: Ihre Lou ist eine Frau aus einem Pariser Banlieu, etwas rundlich, etwas klein, etwas verliebt – eine Frau, die sich an die Richtgeschwindigkeit hält.

Der Zusammenprall mit der populärsten Frau der Welt wirft Lou aus der Bahn. Sie hört den Mercedes ihre Karosserie schrammen, sieht ihn gegen den Pfeiler rasen, gibt instinktiv Gas und flüchtet. Als sie erfährt, wer in dem Wagen saß, beginnt ihre eigentliche Flucht. Lou will ihre Ruhe, was hat sie mit einer verdammten englischen Prinzessin am Hut, que diable! Ihr graut vor den Paparazzi, die sie schon über sich herfallen sieht. Einer aus der Meute hieß mit Nachnamen Ratte und hat ein Photo von der sterbenden Princess of Wales gemacht. Nichts macht Lou mehr Angst als der Kollateralschaden der hochtourig ausflippenden High Society: ein drei Meter langer Kratzer an ihrem Fiat Uno und ein abgesplittertes Rücklicht, über dessen Fragmente sich schon bald Hunderte von Polizeispezialisten beugen. Diese Frau mit ihrem kleinen Vorstadtleben nach Richtgeschwindigkeit wird der Welt zeigen, wie sie beschleunigen kann. Und je enger der Raum um sie herum, desto schneller schwirrt das Elementarteilchen Lou.

Das Lektürevergnügen beginnt schon, bevor der eigentliche Text überhaupt anhebt und hält bis zum letzten Satz an. Gleich mit der Wahl ihres Mottos, einige Zeilen aus einem alten Seemannslied, zeigt Cossé eine glückliche Hand: „Den 31. Tag des Monats August sahen wir unter dem Wind eine Fregatte aus England auf uns zuhalten, die das Meer und die Fluten zerschnitt.“ Die Autorin hält diesen ironisch-epischen Ton bis zum Schluß ihres atemlos erzählten Thrillers durch. Sie gestaltet Lous spannende Flucht vor den Ermittlern, der Presse und einem erpresserischen Desperado vor allem als poetische Odyssee durch die Randbezirke von Paris.

Das Departement Île-de-France erscheint als erhaben zersiedelte Landschaft, deren Schilderung beinahe romantische Züge annimmt: „Sie war in die von der Oberstadt Ivrys aus gut sichtbare Senke hinabgetaucht, die recht anziehend wirkte, mit dem blauen Dunst am Horizont und darüber dem Rauchpilz, der auf einen riesigen Schornstein gepflanzt war, hatte eine der Fahrbahnen der doppelten Nelson-Mandela-Brücke überquert, von der aus man den Zusammenfluß der Seine mit einem anderen ebenso breiten Fluß sehen konnte, den sie, ohne sich sicher zu sein, für die Marne hielt, und entdeckte nun Charenton.“ Ein Satz, der so schön schwingt wie die doppelte Nelson-Mandela-Brücke in der 16-Uhr-Rush-Hour.

In Lous Fluchtterrain sind die Namen der kleinen, vom wuchernden Paris angefressenen Gemeinden von ebenso fälschlich nostalgischem Glanz wie das Leben der Märchenprinzessin Diana. Wer gegen Abend in einem Städtchen namens Le Kremlin Bicêtre ankommt und feststellt, daß dieser Kreml vor allem eine Speckgürtel-Festung aus Baumarkt-Eigenheimen ist, muß sehr schnell auch noch den letzten Rest Glauben an imperialen Prunk verlieren. Cossé nutzt ihren Thriller zur Beleuchtung der Megapole aus einer ungewohnten Perspektive, nämlich der aller gehetzten Illegalen. Heißt er nicht gerade Holger Pfahls, braucht der Mitteleuropäer den Psychothriller, um diesen aufschlußreichen Blickwinkel anzunehmen. Wieder einmal zeigt sich, daß all die modernen Transiträume wie Wartehallen, Waschsalons und Motels wie geschaffen für große urbane Abenteuer sind. Lou durchquert alle Pflichtstationen eines ordentlichen Road-Movies: Das schäbige Hotel mit dem schimmeligen Plastikvorhang zwischen Klo und Wannenbad, der verrammelte Unterschlupf in einem Hochhausturm und all die kleinen Brasserien mit ihren mißtrauischen Kellnern.

Gebannt folgt der Leser Lous Verwandlung vom panischen Fluchttier zur kühl planenden Under-Cover-Existenz. Ihre Entwicklung zur kühnen Draufgängerin mit Improvisationstalent ist psychologisch glaubwürdig gestaltet, ohne daß die Autorin jemals in erklärende oder pseudo-motivierende Schwatzhaftigkeit verfällt. In drei nach allen Regeln der klassischen Hollywood-Dramaturgie konstruierten Teilen wird hier alle Psychologie in pure Handlung übersetzt: Exposition (crescendo), 1. dramatischer Wendepunkt, Klimax (allegro molto e con brio), zweiter dramatischer Wendepunkt und Auflösung (andante). Die Haken, die der Text dabei schlägt, sind mehr als überraschend. Wann durfte man das letzte Mal bei stummer Lektüre plötzlich den krassen Ausruf „Kraß!“ aus dem unberechenbaren eigenen Munde hören?

Laurence Cossé erweist sich in diesem makellosen Page-Turner als eine würdige Nachfahrin von großen Spannungsschriftstellerinnen wie Daphne du Maurier oder Patricia Highsmith. Ihr schneller Text hat kein Gramm Faselfett auf dem gelenkigen Erzählgerippe. Cossé gelingt eine reizvolle Mischung aus umstandsloser, lakonischer Thrillerhatz und mit lockerer Hand eingestreuter, schnoddriger erzählter Rede. Originelle psychologische Eigenheiten verschaffen allen Haupt- und Nebenfiguren Lebensfülle.

Wahrscheinlich zum ersten Mal in der Literaturgeschichte findet in diesem Text das Tussenaccessoire Handtasche exzessive leitmotivische Verwendung. Jene schon beinahe fetischistische Paraphernalie der englischen Königsfamilie wird bei Lou zum Symbol eines stetig wachsenden Chaos’: wird sie nicht hektisch auf schmuddelige Hotelböden entleert, wird sie in Zugabteilen und Kofferräumen verstaut oder nach kompromittierendem Beweismaterial und tödlichen Waffen durchwühlt, daß es eine wahre Freude ist.

Verschmitzt entwirft Cossé ihre Lou als umgekehrtes Spiegelbild der Princess of Wales, bis ihre Heldin schließlich als blondierte Kindergärtnerin mit Lady-Di-Frisur arbeitet, ganz wie Lady Spencer vor ihrer Heirat mit Prinz Charles: das ist die Wiedergeburt Diana II. aus einem fahrerflüchtigen Fiat Uno. Stilsicher verwandelt die Autorin ihr unscheinbares Entlein mit pawlowschem Fluchtreflex im rechten Fuß in ein Thelma-und-Louise-Energiebündel, das endlich einmal so richtig Gas gibt. Bald zehn Jahre nach dem Tod von Lady Di kommt die wahre Königin der Herzen aus dem Almatunnel geschossen.


Laurence Cossé: Der 31. Tag des Monats August, Roman, Aus dem Französischen von Michael Kleeberg. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2005, 252 S. 19,90 Euro